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Der Geschmack von Heimat

Ein Verein um Filmemacher Valentin Thurn stellt sich der Industrialisierung im Nahrungsmittelsektor entgegen und hilft Kleinbauern bei der Direktvermarktung.Der Geschmack der Heimat

Das große Geschäft macht Landwirt Peter Zens mit seinen krummen Gurken nicht. Einen Euro verlangt der Bauer aus dem rheinischen Hürth für drei seiner eigenwillig geformten Gewächse, die sich nicht an die Normen der großen Lebensmittelketten halten wollten. Das ist billiger als beim Discounter, knackige Frische vom heimischen Feld inklusive. Was in Form, Farbe und Größe aus der Reihe tanzt, wandert bei den meisten deutschen Gemüsebauern direkt vom Acker in die Tonne. Die Supermärkte fordern makelloses Aussehen, Geschmack verfängt nicht als Verkaufsargument. Trotz der geringen Margen ist das Nebengeschäft mit herzförmigen Kartoffeln, schorfigen Kürbissen oder zu groß geratenen Karotten für Zens deshalb ein kleiner Triumph. Seit er seinen Betrieb komplett auf Direktvermarktungumgestellt hat, lässt er sich von niemandem mehr diktieren, wie leckeres Gemüse auszusehen hat.

Der Gertrudenhof ist Zens‘Heimat, er betreibt den 130-Hektar-Betrieb bereits in dritter Generation und hat ihn zum Erlebnisbauernhof ausgebaut. Mit Hofladen, Streichelzoo und über 1.000 Hofführungen im Jahr. „Den Städtern ist der Kontakt zum Land abhanden gekommen“, sagt er nachdenklich. Mit Aktionen wie Schnippelpartys oder Nachernten will er die Begeisterung der Menschen für die heimische Landwirtschaft wecken. „Man erreicht die Leute nur, wenn man mit ihnen etwas erlebt“, sagt Zens. Wie heute, wo sich Hunderte Familien beim Erntedankfest über den Gertrudenhof schieben, Stockbrot grillen, die Kartoffelscheune entdecken und Väter mit Kindern im Stroh toben. Die Nähe zur Natur und zu den Erzeugnissen aus der Heimat ist der Schlüssel zu mehr Wertschätzung für das Essen, glaubt Gastgeber Zens.Valentin Thurn _ Marco BräunigUm das Stadtvolk wieder auf den Geschmack regionaler Produkte zu bringen, hat sich Zens dem im Juli gegründeten Verein „Taste of Heimat“ angeschlossen – ein Kommunikations- und Informationsnetzwerk für Produzenten, Anbieter und Verbraucher regionaler Lebensmittel. Mit seinem Vermarktungsmodell, das gezielt den Handel umgeht, passt der Gertrudenhof genau ins Raster. Denn der Verein taste of heimat hilft Verbrauchern, regionale Lebensmittel direkt vom Erzeuger zu finden. Das reicht vom frischen Lammfleisch über Gemüsekisten bis hin zu Selbsterntefeldern oder urbanen Gärten. Gestartet ist das Projekt in der Modellregion von Köln bis Düsseldorf und Bonn, bald soll es bundesweit vertreten sein. Stadtbewohner ernähren sich besser, wenn sie einen Bezug zu den Produkten haben - _ Marco Bräunig
Auf Zens‘ Parkplatz öffnet der Vereinsgründer und Dokumentarfilmer Valentin Thurn die Türen zu seinem Lieferwagen. Zentnerweise pralle Hokkaido-Kürbisse leuchten in sattem Orange aus Weidenkörben und Kartons. Thurn und sein Team haben sie bei einem Biolandwirt in Bornheim eingesammelt. „Die nimmt dem Bauern kein Supermarkt ab“, sagt Thurn und zeigt auf ein paar Schrammen und Flecken, die das Gemüse für die Supermarkttheke disqualifizieren. Auf zehn bis 20 Prozent seiner Ernte bleibt der Bauer so jährlich sitzen. Damit solche Mengen wertvoller Nahrungsmittel nicht auf dem Misthaufen vergammeln, zieht Thurn an manchen Wochenenden mit anderen Aktivisten zum „Stoppeln“ über die Felder seiner Wahlheimat Köln und sammelt übrig gebliebene Früchte ein. Jetzt schlüpft der Filmemacher in seine Gummistiefel und wandert mit einigen anderen Nachernte-Helfern hinüber zum Brokkoli- Feld. Es riecht nach Lehm und frischem Gemüse. In wenigen Minuten füllt sich eine ganze Schubkarre mit den gesunden, grünen Röschen. Über die von Thurn gegründete Internetplattform www.foodsharing.de findet das Gemüse binnen zwei, drei Stunden dankbare Abnehmer.

System mit großen Verlusten

Seitdem der Dokumentarfilmer für sein

target="_blank" rel="noopener">Kinodebüt „Taste the Waste“ auf den Spuren des Hungers durch die Welt gereist ist, lässt ihn die Verschwendung von Nahrungsmitteln nicht mehr los. „Das Wegwerfen verschärft den Hunger“, kritisiert Thurn – auch wenn das in reichen Ländern kaum jemand merkt. Elf Millionen Tonnen Lebensmittel landen nach einer von der Bundesregierung beauftragten Studie der Universität Stuttgart allein in Deutschland jährlich im Müll. Kartoffeln und Kürbisse mit leichten Schrammen _ Marco Bräunig
Diese Vergeudung macht Thurn so wütend, dass ihm die bloße Dokumentation des Wahnsinns nicht mehr reicht. Mit „Taste of Heimat“ zieht der Journalist nun selbst gegen die zunehmende Industrialisierung und Konzentration im Lebensmittelsektor zu Felde. Denn diese trägt nach seinen Recherchen maßgeblich zu Ressourcenverbrauch und Verschwendung bei.

Die industrielle Nahrungsmittelproduktion ist ein System mit großen Verlusten. Sie ist ineffizient, schädigt das Klima und die Umwelt“, sagt Thurn. Dabei profitiert sie von der Ahnungslosigkeit der Verbraucher. Wer weiß schon, dass deutsche Milchkühe Soja fressen? Und dass Großfarmer für dessen Anbau den Regenwald in Brasilien abholzen? “ Wir wollen billige Milch kaufen. Aber die meisten Menschen wollen nicht, dass der Regenwald zerstört wird. Wir handeln unwissentlich“, erklärt der Journalist mit schwäbischen Wurzeln. Nacherntehelfer _ Marco Bräunig
Auch ein Großteil der Verschwendung geht Thurn zufolge auf das Konto der Konzerne. „Es wird immer deutlicher, dass die Menge, die wir wegwerfen, mit der Industrialisierung des Nahrungsmittelsektors zu tun hat.“ So enden allein in deutschen Biogasanlagen nach Branchenangaben jährlich 1,5 Millionen Tonnen Lebensmittelreste. Manches davon hat das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten, ein Großteil des entsorgten Gemüses sieht einfach nicht mehr schön genug aus.
Nach Überzeugung des Vereins „Taste of Heimat“ kann nur die Unterstützung der bäuerlichen Landwirtschaft die Macht der Lebensmittelkonzerne brechen. Das positive Gefühl, in einer Region verwurzelt zu sein, soll sich im Einkaufsverhalten niederschlagen. Um die Städter nachhaltig an „ihren“ Bauern zu binden, hilft der persönliche Kontakt. Finanziell bringen Aktionen wie das „Stoppeln“ den Bauern zwar nichts. Erlebnisse dieser Art schärfen aber das Bewusstsein dafür, wo unser Essen herkommt – und regen zum Nachdenken über das Kaufen und Wegwerfen an. Deshalb bietet „Taste of Heimat“ zusätzlich zur regionalen Anbietersuche auch Workshops, Kochaktionen und Ausflüge zu heimischen Erzeugern an. „Erst, wer einmal selbst über den Acker gegangen ist, erkennt, dass Gemüse mit einer kleinen Delle nicht schlecht ist, und wird danach anders einkaufen“, sagt Thurn. Stadtbewohner ernähren sich besser, wenn sie einen Bezug zu den Produkten haben, die sie essen, glauben die Vereinsgründer.
Lebensmittel zu kaufen gibt es auf der Internetseite nicht: Der Verein verfolgt keine kommerziellen Interessen. Er finanziert sich durch Mitglieder wie die Slow-Food-Bewegung, regionale Bauernverbände, Verbraucherzentralen sowie Nicht-Regierungsorganisationen wie MISEREOR, die Welthungerhilfe, NABU und private Stifter. Später sollen teilnehmende Betriebe einen kleinen Obolus entrichten.Stadtbewohner ernähren sich besser, wenn sie einen Bezug zu den Produkten haben - _ Marco Bräunig

Schlüssel zur Lösung des weltweiten Hungerproblems

Im Frühjahr 2015 kommt Thurns neuer Film zur Welternährung in die Kinos. „Zehn Milliarden“ widmet sich der Frage, wie trotz schwindender Ressourcen genug Nahrungsmittel produziert und verteilt werden können, um eine rapide wachsende Weltbevölkerung satt zu bekommen. Angesichts der Tatsache, dass bereits heute rund eine Milliarde Menschen hungern, klingt Thurns These verblüffend einfach: „Eigentlich würde das, was wir jetzt anbauen, bereits für zehn Milliarden Menschen reichen.“ Denn rund 30 bis 40 Prozent aller produzierten Nahrungsmittel weltweit vergammeln, hat das UN-Umweltprogramm UNEP berechnet.

Die Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft, wie sie „Taste of Heimat“ in Deutschland vorantreibt, ist nach Thurns Recherchen auch der Schlüssel zur Lösung des weltweiten Hungerproblems. Kleinbauern erwirtschaften in Entwicklungsländern nahezu 90 Prozent der Erträge. „Regionale Produkte spielen eine zentrale Rolle für die Welternährung“, ist Thurn überzeugt. Spätestens seit den beiden großen Hungerkrisen 2008 und 2011 sei klar, dass die Grundversorgung aus dem eigenen Land kommen müsse, um das Überleben zu sichern.

Von Nahrungsmittelimporten abhängige Länder rutschen in Zeiten explodierender Weltmarkt-Preise schnell in lebensbedrohliche Ernährungskrisen. Spekulationen mit Agrarrohstoffen verschärfen den Hunger. In armen Regionen in Westafrika und Lateinamerika geben die Menschen selbst in guten Zeiten 60 bis 70 Prozent ihres Einkommens für Nahrung aus. Schnellen die Preise in die Höhe, reicht es nicht mehr für das tägliche Brot. Subventionierte Agrarexporte zu Dumping-Preisen aus der EU behindern allerdings immer noch die Entwicklung nationaler und regionaler Märkte. Gegen diese billigen Tiefkühl-Lebensmittel haben die Kleinbauern, etwa in Westafrika, keine Chance. Deutschland - Land der Ideen _ Marco Bräunig
Um nicht nur die Landbevölkerung, sondern auch die großen Städte mit Nahrungsmitteln zu versorgen, brauchen die örtlichen Bauern nach Thurns Recherchen moderne Technik sowie die Infrastruktur für Weiterverarbeitung und Transport. Seine Dreharbeiten führten den Dokumentarfilmer auch nach Kamerun. Die Landwirte, die er dort traf, können zwar genügend Nahrungsmittel erzeugen. Sie verfügen aber weder über Lager- und Kühlhäuser noch über Lastwagen. So bleibe ihnen der Zugang zu den Märkten versperrt. Kooperativen für die Vermarktung könnten den Teufelskreis durchbrechen. „Bei den Kleinbauern müsste Entwicklungshilfe ansetzen“, sagt Thurn. In Deutschland will der Verein „Taste of Heimat“ den Kleinbauern helfen, indem er den Städtern die Vorzüge ihrer Region schmackhaft macht. Die Chancen dazu stehen nicht schlecht. Laut Umfragen interessieren sich in Folge der jüngsten Lebensmittelskandale immerhin 25 Prozent der Verbraucher für die Frage, woher unser Essen kommt. „Wenn ich regional, saisonal und möglichst bio einkaufe, kann ich etwas gegen den Welthunger tun“, ist Thurn überzeugt. In Zeiten, in denen Boden, Energie und Wasser knapper werden, schont diese Art des Einkaufens nebenbei Umwelt und Klima. „Taste of Heimat“ hat auch die Jury von „Deutschland – Land der Ideen“ überzeugt. Die 2005 von der Bundesregierung und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) gegründete Standortinitiative aus Politik und Wirtschaft wählte den Verein unter rund 1.000 Bewerbern aus und erklärte ihn beim Erntedankfest auf dem Hürther Gertrudenhof zum „Ausgezeichneten Ort im Land der Ideen“. Bei der Laudatio trägt Thurn immer noch Gummistiefel. Und nach dem Erinnerungsfoto gibt es herzförmige Kartoffeln zum Mitnehmen.

Eine Reportage von Ursula Barth | Fotos von Marco Bräunig

Dieser Beitrag wurde zuerst im Magazin „Mut zu Taten“ 2015 veröffentlicht.

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

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    Hallo Frau Barth, viele gute Ideen, aber leider auch viele Halbwahrheiten. Angesichts aktueller Bioernten, die fast 50 % geringer ausfallen als beim verantwortungsvoll wirtschaftenden Berufskollegen und angesichts des extrem hohen deutschen Bioimportbedarfs, ist der Apell, mehr Bio zu konsumieren, geradezu grotesk: unsere Bionachfrage entzieht Drittländern Ackerfläche! Allein in Afrika fallen 94 % Verluste von der Ernte bis zur Distribution an:http://www.weforum.org/reports/enabling-trade-valuation-action, egal ob wir Lebensmittel wegwerfen, oder nicht. Ja, wir sollten unseren Mitteln zum Leben mehr Wertschöpfung schenken. Dazu gehört auch Respekt und vielleicht Dank für die Berufsgruppe, der Sie eine industrielle Landwirtschaft vorwerfen, weil sie aufgrund vollkommen freier Märkte zu Weltmarktbedingungen produzieren MUSS!

  2. Avatar-Foto

    Es ist die moderne Landwirtschaft mit Düngung, Pflanzenschutz, intensiver Tierhaltung und professionell gezüchteten Sorten welche heutzutage 6,5 Mrd Menschen satt macht un damit doppelt soviele wie noch vor 40 Jahren. Dümmliche Hetzkampagnen gegen die Ernährer des Volks sollten von Misereor nicht aufgegriffen werden.

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