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Jede Sekunde flieht ein Mensch

Wie drei Studentinnen aus Würzburg auf die Idee kamen, einen Fluchtatlas zu gestalten und mit welchen Schwierigkeiten sie dabei zu kämpfen hatten.

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Die drei Grafikerinnen Yvonne Moser, Lilli Scheuerlein und Laura Markert hatten vor zwei Jahren die Idee, aus Daten und Geschichten zur Flucht einen Atlas zu gestalten. © Toby Binder

Die Idee für den Fluchtatlas beginnt mit einer Begegnung. Laura Markert studiert Kommunikationsdesign an der Hochschule Würzburg. Für eine Seminararbeit fotografiert sie Menschen im Alltag, auch eine 16-jährige Somalierin, die seit drei Monaten in Deutschland lebt. Sie floh übers Mittelmeer und hat seit ihrer Flucht den Kontakt zu ihren Eltern verloren. Laura blieb mit ihr in Verbindung.
Einige Monate später sitzt Laura wieder in einem Seminar und hört den Fragen ihres Professors Christoph Barth zu: Wie lassen sich lebenswichtige Themen in Bilder übersetzen? Und: Wie können Designer und Grafiker gesellschaftliche Verantwortung übernehmen? Große Fragen. Bei den Studentinnen Laura Markert, Lilli Scheuerlein und Yvonne Moser trifft der Professor einen Nerv. Die drei Grafikerinnen suchen zusammen nach Themen, und schreiben Begriffe wie „Wegwerfgesellschaft“ und „Rituale“ auf ihre Liste. Was noch? Laura erinnert sich an ihre Begegnung mit der Somalierin.

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Der Fluchtatlas zeigt in drei Kapiteln – Heimat, Flucht und Schutz – Einzelschicksale hinter Asylanträgen und nackten Zahlen und erzählt von Irrwegen, dei kein Ende zu nehmen scheinen. © Toby Binder

Sie erzählt, wie aus dem fremden Mädchen, das sie getroffen hat, eine junge Frau wurde, die Deutsch lernte und eine Ausbildung begann. Doch bis heute weiß ihre Mutter in Somalia nicht, dass es ihr inzwischen gut geht. Ihre Flucht nimmt damit kein Ende. Es ist, als bliebe ein Teil von ihr unterwegs. Als Laura aufhört zu reden, bleibt es einen Moment still. Dann setzen die drei das Wort „Flucht“ auf ihre Liste. So fing es an mit ihrem Fluchtatlas.

Jetzt stehen Laura, Lilli und Yvonne in Lauras Wohngemeinschaft vor einer Rekonstruktion ihrer Arbeitswand mit Zeitungsartikeln, Notizen, Zeichnungen, Farbvergleichsskalen und Bildern. Zwei Jahre sind vergangen, in denen sie recherchiert und gestaltet haben, Preise gewannen und einen Verlag für ihr Projekt suchten. Zwei Jahre, in denen Kanzlerin Angela Merkel sagte „Wir schaffen das“ und sie manchmal dachten, aus ihrem Fluchtatlas werde nie ein echtes Buch.

Als sie im Sommer 2014 begannen, war von einer Flüchtlingskrise noch keine Rede. Sonst hätten sie vielleicht doch ein anderes Thema gewählt. „Wir hatten Angst, es falsch zu machen“, erinnert sich Yvonne. Sie hatten so etwas Großes noch nie gemacht, kaum Recherche-Erfahrung und wenig Zeit. Wie konnten sie das komplexe Thema konkret machen, ohne es zu sehr zu vereinfachen?

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© Markert, Moser, Scheuerlein | Edition Büchergilde

Auf dem Boden liegt ein Blätterstapel. Etwa 40 Seiten lang ist die Routenbeschreibung des Landwegs von Kabul nach München – 1.396 Stunden zu Fuß. Manche lernen diese Route auswendig, weil man 40 Seiten nicht mitnehmen kann auf die Flucht. Die drei haben viele Fragen, die sie zur Grundlage ihrer Arbeit machen: Wie funktioniert das Asylrecht? Wie lebt man in einer Flüchtlingsunterkunft? Warum flieht man? Was nimmt man mit? Sie recherchieren, lesen sich ein und treffen sich einmal pro Woche mit Geflüchteten in einer nahen Unterkunft.

An der Wand lehnt eine Weltkarte. Karten präsentieren die Welt im handlichen Format, Atlanten sind ein Sammelband  aus Karten. Sie wecken Reiselust. Mit ihrem Fluchtatlas drehen Laura, Lilli und Yvonne dieses Prinzip um: Statt Reiseträume in ferne Länder stellt das Buch die Fliehenden, die keinen Ort mehr haben, in den Mittelpunkt.

Bei ihrem ersten Besuch in der Flüchtlingsunterkunft treffen die drei auf eine Äthiopierin, die seit über zwei Jahren dort lebt. Nur schleppend entwickelt sich ein Gespräch. „Wir konnten schlecht fragen: Was hast du so für Hobbys?“, sagt Lilli. „Wir fühlten uns nicht gut.“ Die Frau hat wenig zu erzählen, sie langweilt sich seit Monaten. Professor Christoph Barth, der die Studentinnen bei ihrem Projekt betreute, erinnert sich, dass die drei manches Mal weinend im Auto saßen. Irgendwann war das Vertrauen
da. Die Geflüchteten laden sie zu schwarzem Tee und offenen Gesprächen in ihre Zimmer ein. Doch viele wollen über ihre Flucht nicht sprechen. Also sammeln sie, was durchscheint: Fetzen von Fluchtgeschichten, Bruchstücke trauriger Erlebnisse von Folter und Angst.

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© Markert, Moser, Scheuerlein | Edition Büchergilde

Manchmal haben die drei Angst, dass sie den Menschen zu nahekommen. Doch wer durch den Fluchtatlas blättert, spürt ihre Behutsamkeit. Auf einigen Seiten zerfließt ein Dokument zu einem unleserlichen Text. Nur einzelne Satzstücke fallen ins Auge: „Heimat“, „Wann haben Sie…“, „Familie“. Das macht spürbar, wie bedrohlich ein Asylantrag ist, den man kaum entziffern kann. Dieses Spürbarmachen von Erfahrungen ist die große Leistung des Atlas. Nur an wenigen Stellen gibt es die typische Vogelperspektive, überwiegend sind Infografiken, Legenden und Fotos zu sehen. Vor allem die Fotos veranschaulichen die Fetzen der Erinnerung der Geflüchteten an ihre Flucht. Das Buch ist so weder journalistisches Sach- noch Kunstbuch, noch die Erzählung eines Einzelschicksals. Es ist eine ganz eigene emotionale Bestandsaufnahme.

Als sie nach vier Monaten und einigen schlaflosen Nächten ihren DIN-A3- großen Fluchtatlas präsentieren, ist jedem im Seminar klar, dass hier etwas Besonderes entstanden ist. Doch ein Atlas ist ein aufwändiges und teures Buch: Großformat, farbige Grafiken, Stoffeinband – die Herstellungskosten für drei Einzelstücke summieren sich auf rund 600 Euro. Trotzdem suchen die Studentinnen einen Verlag. Ihr Atlas soll alle Menschen erreichen. Christoph Barth rät ihnen, die Arbeit beim Nachwuchswettbewerb des Art Directors Club einzureichen. Sie tun es.

Und werden als „Studentinnen des Jahres 2015“ ausgezeichnet. Die Arbeit wird gelobt, doch niemand will sie veröffentlichen. Sie bekommen eine weitere Auszeichnung, den German Design Award 2016 – ein Sprungbrett in eine erfolgreiche Karriere. Sie freuen sich, trotzdem will weiterhin niemand ihr Buch drucken. Was nützen Preise für ein bedeutsames Buch, das keiner lesen kann? „Wir dachten über Crowdfunding nach, damit wenigstens eine Auflage von 100 Stück auf den Markt kommt“, erzählt Laura. Da sind anderthalb Jahre vergangen, um das Thema Flucht gibt es längst einen Medienhype und ihr Studium nähert sich dem Ende.

Doch dann trifft im März 2016 eine Einladung zum Mappen-Speed-Datingder Stiftung Buchkunst bei der Leipziger Buchmesse ein. Laura, Lilli und Yvonne klemmen sich ihren Zweihundert- Euro-Atlas unter den Arm. Beim genossenschaftlichen Verlag Büchergilde Gutenberg treffen sie endlich die richtigen Leute. Der Verlag findet weitere Unterstützer: einen Papierhersteller,eine Druckerei und einen Stoffproduzenten für Bucheinbände. Im Juni halten Laura, Lilli und Yvonne ihr Buch in den Händen. Es liegt mit einer Erstauflage von 2.500 Stück in den Buchhandlungen. Etwas kleiner ist es geworden, der geprägte Leineneinband ist nicht mehr grün, sondern rot, ein paar Seiten sind gekürzt und dieFakten auf den neuesten Stand gebracht.  Ihr Ziel ist erreicht. Und nun?

Sie sind froh, dass sie trotz der langen Durststrecke drangeblieben sind. „Noch geht sowas, später müssen wir Geld verdienen“, sagt Lilli Scheuerlein, die nach Hamburg oder Berlin ziehen will. Laura Markert und Yvonne Moser sind gerade dabei, gemeinsam mit Freunden eine Agentur in Würzburg zu gründen. Nach den Preisen kamen Anfragen von Werbeagenturen und mit ihnen ein Gewissenskonflikt. „Ich will jetzt keine Coca-Cola-Kampagne machen“, erklärt Lilli Scheuerlein und lacht. Sie haben Anfragen für Vorträge über Teamarbeit und zu Lesungen. Die großen Fragen ihres Professors begleiten sie immer noch. Und ihr Weg fängt gerade erst an.


frings-2-titelbildDieser Artikel erschien zuerst im MISEREOR-Magazin „frings.“ Das ganze Magazin können Sie hier kostenfrei bestellen >

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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    Meine Hochachtung! Finde ich ein ganz tolles Projekt und danke, dass Sie darüber berichten, wie man „im ganz normalen Leben“ etwas bewegen kann!

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