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Indien zwischen gelebter Vielfalt und Hindu-Nationalismus

Der Hindu-Nationalismus wird schriller. Trotzdem findet man im indischen Alltag viele Beispiele, wie Kulturen und religiöse Praktiken zusammenfließen und friedlich miteinander existieren.

(Foto: Meena Kadri/Flickr, Lizenz CC BY-NC-ND 2.0 )

Independence Day auf indisch

Zum 70. Unabhängigkeitstag hissen die Einen die Flagge für die „eigene Hindu-Nation“. Die Anderen nehmen ihn zum Anlass, den Pluralismus und die Vielfalt Indiens zu feiern. Ein besonderes Jubiläum, an dem der Befreiung von der britischen Kolonialherrschaft gedacht wird. Bereits Wochen vor dem Großereignis bestimmte ein Meer aus Flaggen vielerorts das Straßenbild. Auf den Märkten, an den Kreuzungen und in den Geschäften wird alljährlich die indische Trikolore in verschiedensten Größen und Varianten angeboten.

Kaum ein Platz, der dann nicht vom Flaggen-Fieber befallen ist. Im schicken Suburbia von Mumbai, im gediegenen Regierungsviertel Delhis oder am berühmten Marina Beach von Chennai, überall wird mit prächtigen Dekorationen in den Farben der Trikolore, Safran, Weiß und Grün, mit Blumenschmuck und Luftballons, mit besonders aufwändigen Gerichten und Süßigkeiten, dem Höhepunkt des Tages entgegengefiebert: dem Hissen der Flagge und dem inbrünstigen Singen der Hymne.

Vizepräsident beschwört Indiens pluralistische Tradition

In Zeiten nationaler Euphorie und Beweihräucherung sind leise und nachdenkliche Töne eher selten. Der scheidende indische Vizepräsident Mohammad Hamid Ansari hat sie dennoch angeschlagen. Bei seiner Verabschiedung würdigte er die Errungenschaften der indischen Demokratie.  In seiner Rede erinnerte er an die Werte, die Indien stets ausgezeichnet haben: Pluralismus und Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen, Religionen und politischen Auffassungen. Diese Werte sieht Ansari in Gefahr. Sie müssten gegen die Tendenz des chauvinistischen Nationalismus verteidigt werden. Denn sonst drohe dieser die Vielfalt und das Verständnis dafür zu vergiften.

Heilige gleich mehrerer Religionen …

Noch finden sich im indischen Alltag zahlreiche Beispiele gelebter Toleranz: Die alljährliche Wallfahrt zur Basilika von Mount Mary in Mumbai feiern Adivasi ebenso wie südindische Hindu-Tamilen, die die Heilige Maria in ihren Kanon aufgenommen haben.

Über religiöse Grenzen hinweg verehrt wird auch Sai Baba von Shirdi. Vor dem Schrein des bereits 1918 verstorbenen spirituellen Lehrers bilden sich lange Warteschlangen. Muslime aus dem fernen Gujarat ebenso wie Hindus aus dem umliegenden Maharashtra stehen in der Mittagssonne und warten darauf, ihrem Idol ihre Ehrerbietung zu erweisen. Auch dem Buddhismus zugeneigte Urbanites scheuen sich nicht vor der langen und teils aufreibenden Autofahrt ins ländliche Shirdi.

… und Kommunisten auf Pilgerfahrt nach Mekka

Keralesische Kommunisten gehen auf Umra-Pilgerfahrt nach Mekka – mit dem Segen des Politbüros. Und Taxifahrer mit dem markanten Turban der Sikh bringen auf dem Armaturenbrett neben dem Bild ihres Religionsbegründers Guru Nanak auch ein Foto der Sufi-Pilgerstätte Ajmer Sharif an, die sie ebenbürtig verehren.

Vasudhaiva Kutumbakam …

Nirgendwo ist das Zusammengehen von Kulturen, Lebensstilen und Weltanschauungen so augenfällig wie in Indien. Das Verständnis für die Interdependenz und für die wechselseitige Verbundenheit manifestiert sich zudem in dem uralten philosophischen Konzept Vasudhaiva Kutumbakam: die Welt ist eine Familie.  Es steht für die Erkenntnis, dass das menschliche Dasein interdependent ist, dass das „ich“ stets nur im Verhältnis zum „Du“ existiert: „Ich bin, weil Du bist.“

… die Welt als eine Familie denken

Auch Vizepräsident Ansari richtete sich in seiner Rede gegen die nationalistischen Töne vom Kampf der Kulturen und Religionen. Ohne die Idee des Vasudhaiva Kutumbakam namentlich zu erwähnen, berief er sich ebenso auf die Vorstellung von der Welt als einer Familie: Es müsse erkannt werden, dass in der pluralistischen und säkularen indischen Demokratie „das Andere nicht ohne das Selbst“ zu betrachten ist. Und je stärker die Ausgrenzung des „Anderen“, desto fragiler das „Wir“. Er richtete damit eine Warnung an die Nationalisten, diese zentralen Werte der indischen Demokratie nicht zu leugnen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Vielfalt und Toleranz Indiens im nationalen Taumel nicht auf der Strecke bleiben. Und dass die Werte des Vasudhaiva Kutumbakam nicht nur am indischen Unabhängigkeitstag in Erinnerung gerufen werden.

Über den Autor: Thomas Stauber lebt und arbeitet in Indien.


Dieser Beitrag ist Teil einer Beitragsreihe, die sich im Vorfeld der Fastenaktion 2018 mit politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Hintergründen in Indien auseinandersetzt. Die Fastenaktion 2018 wird gemeinsam mit der Kirche in Indien gestaltet und geht der Frage nach, was wir gemeinsam tun können, damit immer mehr Menschen ein menschenwürdiges und gutes Leben leben können.

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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