Die „Umerziehung“ von Hirten zu sesshaften Ackerbauern ist oft die favorisierte Option staatlicher Entwicklungsprogramme – und sorgt für viele Probleme. Warum und wie es anders gehen kann, erfuhr MISEREOR-Geschäftsführer Martin Bröckelmann-Simon auf seiner Reise in den Norden Äthiopiens.
Hassan Mohammed ist ein mit der Würde des Alters auftretender, vom entbehrungsreichen Hirtenleben gezeichneter Mann. Ich treffe ihn in der Kleinstadt Asayita im trockenen Nordosten Äthiopiens. Hier lebt das Hirtenvolk der Afar.
Leben in der Wüste
Mohammed ist der Chef des Afar Pastoral Council. Das ist der Interessenverband der Hirtenvölker, die seit Jahrhunderten in Trockengebieten umherziehen. Ein hartes Leben, so erscheint es mir, wenn ich die staubige, wüstenähnliche Landschaft betrachte, durch die Herden von Ziegen, Kamelen, Schafen oder Rindern ziehen. In der flimmernden Hitze von bis zu 50 Grad stehen Hütten aus Matten und Ästen.
Verborgene Natur
Auf den ersten Blick wirken diese Wüsteneien öde und ungenutzt, doch das Gegenteil ist der Fall. Sie sind Teil eines intensiven Nutzungszyklus. Wann, wo und wie die im Boden schlummernden Samen zum Leben erweckt werden, schwankt von Jahr zur Jahr extrem. Darauf angemessen zu reagieren, verstehen nur die Wanderhirten, die das Land als Gemeinschaftseigentum nutzen. Wasser, insbesondere der in Abständen fallende Regen, spielt eine zentrale Rolle. Er lässt dann zwischen Geröll und Sand für uns unscheinbare Gräser sprießen, die jedoch für die Tiere sehr nahrhaft sind.
Wissen und Wirtschaftsfaktor
Die Hirten nutzen genau diejenige Vegetation, die jeweils aktuell die richtigen und nötigen Nährstoffe bietet. Denn jedes Jahr kann die Landschaft große Unterschiede im Pflanzenangebot aufweisen. Diese zu erkennen, ist die einzigartige Expertise dieser Menschen und macht ihre besondere kulturelle Identität aus. Mit ihren fundierten Kenntnissen von Pflanzen- und Tierwelt leisten sie einen erheblichen Beitrag zur äthiopischen Wirtschaft. Experten schätzten den Beitrag der Hirtenvölker zum Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2006 auf bis zu 16 Prozent. Dies dürfte sich seitdem wenig geändert haben.
Vieh als Lebensversicherung
Das Vieh ist der Reichtum der Hirtenvölker, die Basis ihrer Wertschöpfung für die nationale Ökonomie und ihre Lebensversicherung, aber auch ihr Stolz und ihre Würde. Das Leben und Wirtschaften beruht darauf, dass die Herden in dieser extremen Trockenzone leben und Dürrezeiten überstehen können. Extreme Schwankungen, also Zeiten des Wachstums ihres Viehbestandes, ebenso wie Zeiten von Verlust und Schrumpfung gehören notwendigerweise dazu.
Ein kluges System – aber verletzlich
Nur durch ihre mobile Lebensweise können Mensch und Tier hier überleben. Denn die Beweglichkeit ist eine permanente Anpassung an widrige und häufig wechselnde Umweltbedingungen. So wandern die Hirten mit ihren Tieren manchmal bis zu eine Woche lang, um dorthin zu gelangen, wo gerade etwas Regen gefallen ist. Sie kennen die Niederschlagszyklen, deuten ihre jeweiligen jährlichen Unterschiedlichkeiten, wissen die richtigen Routen durch die Einöden. Das Erfahrungswissen der Alten, das seit Generationen an die Jungen weitergegeben wird, spielt dabei eine zentrale Rolle. Mensch und Umwelt stehen dabei im Einklang – allerdings einem Einklang voller Kargheit, der sehr verletzlich ist.
Bedrohung durch Klimawandel und Politik
„Früher hatten wir vier richtige Regenperioden, heute kann man den Regen nicht mehr vorhersagen. Früher hat es dann auch richtig und lange geregnet, heute fallen oft nur ein paar Tropfen“, erzählt mir Hassan. Aber nicht nur der Regen wird weniger und unzuverlässiger. Durch den Klimawandel steigt auch die Durchschnittstemperatur. Dazu kommt politischer Druck. Wanderouten werden blockiert, das gemeinschaftlich genutzte Weidegebiet den Hirten geraubt. Eine weitere massive Bedrohung ist die ursprünglich als Erosionsschutz eingeführte Pflanze Prosopis. Außer Kontrolle geraten, überwuchert sie mehr und mehr Weideland durch undurchdringliches dorniges Gebüsch, das zwar grün ist, aber nicht einmal von den Kamelen und Ziegen beherrscht werden kann. All das bringt das ausgeklügelte System aus dem Gleichgewicht und den Hirten droht die Abhängigkeit von Hilfslieferungen. Zudem gibt es weiterhin immer wieder staatlicherseits die Tendenz, die Nomaden zur mehr Sesshaftigkeit und zum Ackerbau zu drängen.
Zukunftsfähige Strategien für die Hirtenvölker
Die MISEREOR-Partner an der Seite der Afar zeigen, wie es anders geht. Sie stärken die Wanderhirten in ihrer spezifischen Lebensweise und erhöhen so die Widerstandskraft der nomadischen Lebensweise. Denn sie setzen an den Ressourcen und dem Wissen an, über das die Menschen verfügen. Nachhaltige Entwicklung heißt so vor allem Diversifizierung. Zum Beispiel,
- wird das von der Prosopis überwucherte Weideland gerodet und das Holz zu Holzkohle verarbeitet;
- nutzen die Menschen den die Region durchströmenden Awash-Fluss, um Bewässerungssysteme anzulegen;
- werden Viehfutter und Gemüse-Setzlinge aufgezogen;
- organsisieren sich Frauen in Sparklubs. So können sie reihum Dinge finanzieren, die eine alleine nicht stemmen kann, und so eigene Einkommensquellen erschließen.
- investieren die Hirten stärker in die Gesundheit ihre Tiere.
Entscheidend ist auch, die Mobilität der Menschen auch über Grenzen hinweg zu sichern, und sie nicht durch rigide Grenzregime einzuschränken. Ein Bündel von Maßnahmen also, das das gesamte System und die Logik der nomadischen Lebensweise berücksichtigt und vor allem auf ihre Verknüpfung mit den anderen lokalen und regionalen Wirtschaftskreisläufen achtet. Wie sagt es eine der Hirtenfrauen: „Geht es den Tieren gut, geht es allen gut. Für uns Afar kommen unsere Tiere immer zuerst, das ist unser Leben, das ist unser Wissen. Wir sind Hirten und wir bleiben Hirten.“