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Bolivien: Harte Nüsse

Die Tacanas im Norden Boliviens leben im und vom Regenwald – indem sie ihn nachhaltig nutzen, etwa durch das Sammeln von Paranüssen. Doch Pläne der Regierung zur Oel- und Gasförderung bedrohen ihre Lebensweise. Und den Paranussbaum.

Das Leben in Puerto Pérez ist ein langer ruhiger Fluss. Der Fluss heißt Río Madre de Dios, breit zieht er dahin, an seinen Ufern nichts als das Grün des Regenwalds. Er hat einen weiten  Weg hinter sich, von den Anden herunter, und einen noch viel weiteren vor sich. Irgendwann wird er mit dem Río Mamoré zusammenfließen und den Madeira bilden, nach einer kleinen Ewigkeit werden sie in den Amazonas münden, und noch später, in unendlicher Ferne, werden sie sich ins Meer ergießen.

Kaum vorstellbar, von hier aus. Ewig weit wirkt das alles, als könnte dieser Raum niemals erschöpft werden. Aber das täuscht. Der Regenwald wird angeknabbert, von allen Seiten. Und gerade hier, im Norden Boliviens nahe der Grenze zu Peru, werden Öl- und Gaslagerstätten vermutet. Sollten die tatsächlich ausgebeutet werden, dann wäre hier nichts mehr wie vorher. Bedroht wäre die Lebensart der Einheimischen, der Tacanas, bedroht wäre auch das einzigartige Ökosystem des Regenwalds, das sie auf behutsame Weise nutzen.

Blick auf den Río Madre de Dios und das Grün des Regenwalds in der Umgebung von Puerto Pérez in Bolivien. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Blick auf den Río Madre de Dios und das Grün des Regenwalds in der Umgebung von Puerto Pérez in Bolivien. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Puerto Pérez ist ein winziges Dorf, zwanzig Holzhäuser, locker gruppiert um den Fußballplatz und den Laden, der auch als Bar dient. Ringsum nichts als Fluss und Wald. Der nächste Ort, Chivé, liegt flussabwärts am gegenüberliegenden Ufer, von dort führt eine Straße zur nächsten Stadt, vier Stunden über eine Sandpiste, wenn’s gut geht. Die Tacanas leben nicht mehr in einem idyllischen Urzustand, sie erzeugen ihren Strom mit Solarzellen und nutzen Handys und Motorboote als unverzichtbare Kommunikations- und Transportmittel. Aber sie leben bewusst bescheiden, auf eine Weise, die ihre Umwelt nicht zerstört. Sie jagen und fischen für den Eigenbedarf, bauen Mais und Bohnen, Mangos und Bananen an. Und sie sammeln Paranüsse, die auf dem Markt einen guten Preis erzielen und deren Wert ihnen sehr bewusst ist.

Santos Cáceres, 37 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder, steht vor seiner Hütte und grinst unternehmungslustig. „Vamos?“, fragt er, gehen wir? Die Machete blitzt in seiner Hand, die Klinge hat er eben noch geschärft. Mit seinem Nachbarn Rolando geht er heute zur Nussernte. Mit traumwandlerischer Sicherheit bewegen sich die Männer durch den Wald. Ein Fremder wäre hier sofort verloren. Sie aber wissen, wo sie von dem schmalen Pfad auf einen noch schmaleren abbiegen müssen, sie kennen jeden einzelnen der verstreut stehenden Nussbäume. „Wir sammeln nur die Nüsse auf, die bereits runtergefallen sind“, erklärt Santos. „Die Bäume reagieren sehr empfindlich auf Störungen von außen.“

Santos Cáceres am Steuer seines Motorboots auf dem Río Madre de Dios. Der Holzbaldachin bietet Schutz vor der Sonne. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Santos Cáceres am Steuer seines Motorboots auf dem Río Madre de Dios. Der Holzbaldachin bietet Schutz vor der Sonne. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Die Paranussbäume sind ehrwürdige Gestalten, bis zu 50 Meter hoch. Sie werden mehrere 100 Jahre alt im schnelllebigen Ökosystem des Regenwalds, wo alles Wachstum ist und Zerfall und Neubeginn und Kampf um Ressourcen. Die Paranussbäume werden vor allem von den Agutis verbreitet, kleinen Nagetieren, die die Samen fressen, einen Teil aber auch vergraben und vergessen. Der Wald hier beherbergt viele seltene oder geschützte Arten, etwa die Pakaranas, eine weitere Nagetierart, die nur am Übergang der Anden ins Amazonastiefland vorkommt; oder den Madidi-Springaffen, den es nur im nördlichen Bolivien gibt und der als Lebensraum einen dichten, geschlossenen Wald braucht. Durch den streift auch der Jaguar; in den Gewässern jagt der Riesenotter, und auch der Mohrenkaiman, eine einheimische Art, kommt hier vor.

Santos nimmt eine der Nüsse in die Hand, sie sieht aus wie eine Kokosnuss. Ein gezielter Schlag mit der Machete, noch einer, dann die Klinge reinstecken und drehen, schon springt die Schale auf. Innen drängen sich zehn bis 20 Samen wie Pralinen in der Schachtel, unverkennbar an der kantigen Form – das, was wir als die Nüsse bezeichnen. Deren Schale muss noch geknackt werden (was später in der Fabrik geschieht), und erst dann hat man die Paranuss, wie sie bei uns im Müsli oder im Studentenfutter landet. Santos hält die Nuss hin wie eine Schale mit Gebäck: „Castaña!“, sagt er, es klingt liebevoll und professionell zugleich.

Santos Cáceres erntet Paranüsse im Wald. Die Tacanas sammeln nur die Nüsse auf, die bereits heruntergefallen sind. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Santos Cáceres erntet Paranüsse im Wald. Die Tacanas sammeln nur die Nüsse auf, die bereits heruntergefallen sind. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Der Paranussbaum hat eine Besonderheit: Er lässt sich kaum auf Plantagen kultivieren, fast die gesamte Ernte stammt aus Wildsammlungen. Paranussbäume wachsen dort, wo die Natur und die Agutis sie wachsen lassen. Sie sind das Produkt eines intakten Regenwaldes. Dieser aber verträgt keine Menschenmassen, wenn er als Ökosystem erhalten bleiben soll. So sind denn die Tacanas auch ein winziges Volk; rund 1.000 Menschen leben hier auf einem Gebiet größer als das Saarland. Das könnte also eigentlich der Deal sein: Leute wie die Tacanas liefern der Welt Paranüsse, ein gesundes und nahrhaftes Nahrungsmittel. Und schützen nebenbei den Wald mit seiner Artenvielfalt. Doch genau deshalb prallen hier zwei Welten aufeinander. „Diese Art, die natürlichen Ressourcen zu nutzen, passt nicht in die konventionelle Logik der Agrarnutzung“, erklärt Mario Paniagua von der Fundación Tierra, die indigene Gemeinschaften wie die Tacanas berät; „die Großgrundbesitzer und Konzerne sehen das, was die Tacanas machen, überhaupt nicht als Nutzung, für die liegt das Land einfach brach.“ Und noch weniger passt diese Lebensweise in die Logik der Ölindustrie.

Ein nummerierter Paranussbaum. Paranussbäume wachsen wild, sie lassen sich kaum kultivieren und sind anfällig für Störungen. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Ein nummerierter Paranussbaum. Paranussbäume wachsen wild, sie lassen sich kaum kultivieren und sind anfällig für Störungen. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Wieviel an Öl- und Gasreserven hier wirklich lagern – niemand weiß es. Das ist das Ziel der Exploration, mit der der bolivianische Staatskonzern YPFB das chinesische Unternehmen BGP beauftragt hat. Die Firma hat ein Raster aus Linien über den Regenwald gelegt, mehr als 1.000 Kilometer insgesamt, noch über das Gebiet der Tacanas hinaus; 20.000 Löcher wurden in den Boden gebohrt, bis zu neun Metern tief, und in jedem eine Sprengladung gezündet, um seismische Daten zu gewinnen über die Struktur des Untergrunds. Ein dreiviertel Jahr lang haben sie gebohrt und gesprengt, jetzt ist erstmal wieder Ruhe. Aber wie lange? Und was geschieht dann?

Was die Ölförderung im Regenwald anrichtet, kann man an vielen Orten sehen, vor allem in den Nachbarländern Ecuador und Peru. Auch im Gebiet der Tacanas wurde schon einmal exploriert, in den achtziger Jahren. Die Schäden, die die Sprengungen an den Pflanzen und am Boden angerichtet haben, sind noch jahrzehntelang zu sehen.

Doch inzwischen hat sich etwas geändert: Die Tacanas haben sich organisiert. Eigentlich müssten sie ohnehin Rückenwind haben, hat Bolivien doch seit 2006 erstmals einen Präsidenten mit indigener Herkunft: Evo Morales. Endlich eine Stimme für die Unterdrückten, so schien es damals. Doch Morales hat viele im Land enttäuscht. Die Korruption wuchert, eine Landreform kommt nicht voran, die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, in Hochlandund Tieflandbewohner hat sich verschärft. Die Regierung setzt verstärkt auf die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen – und nimmt dabei wenig Rücksicht auf die Umwelt und die Bevölkerung. Eigentlich schützt die Tacanas die UNDeklaration von 2007, die indigenen Völkern das Recht auf Selbstbestimmung gewährt. Und eigentlich sollte ihr Gebiet von der bolivianischen Regierung als indigenes Gebiet anerkannt werden, als Tierra Communitaria de Origen, so wie es weiter südlich schon eines für die Tacanas gibt. Doch die Regierung verzögert die Anerkennung – um die Öl- und Gasförderung zu ermöglichen, argwöhnen viele.

Niemand weiß, wieviel an Öl- und Gasreserven in dem Gebiet liegen, in dem die Tacanas die natürlichen Ressourcen nutzen. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Niemand weiß, wieviel an Öl- und Gasreserven in dem Gebiet liegen, in dem die Tacanas die natürlichen Ressourcen nutzen. © Eduardo Soteras / MISEREOR

Santos Cáceres schultert den 60 Kilo schweren Sack mit Paranüssen, schleppt ihn zu der Hütte, wo er übernachtet, wenn er in diesem Teil des Gebiets unterwegs ist. Vor der Hütte strömt ruhig der Fluss, ein kleiner Nebenfluss des großen Río Madre de Dios. „Wir haben hier schon immer so gelebt“, sagt Santos. „Auch wenn wir nicht studiert haben, sind wir doch Experten darin, unser Land und unsere Lebensgrundlagen zu schützen.“ Er lauscht auf die Geräusche des Waldes. Vorhin war noch eine Horde Brüllaffen zu hören, dazu die unterschiedlichsten Vögel; jetzt wird es stiller. „Der Wald ist alles für uns“, sagt er. „Wir werden so schnell nicht aufgeben.“

Text: Martin Rasper lebt als freier Autor und Wissenschaftsjournalist in München. Er liebt den Regenwald, seit er nach dem Studium mehrere Monate als Aussteiger auf Zeit in einer Hippiekommune im Regenwald von Costa Rica verbracht hat. Paranüsse wuchsen dort allerdings nicht, dafür Brotfruchtbäume.

Über den Fotografen: Eduardo Soteras betrachtet die Welt aus vielen Perspektiven. Geboren in Argentinien als Kind libanesischer Migranten, pendelt er heute als Dokumentarfotograf zwischen Lateinamerika, Afrika und dem Nahen Osten. Er verfolgt gerne Themen über Jahre wie den Weg zentralamerikanischer Migranten in die USA oder das Leben von Höhlenbewohnern in Hebron.


 

Dieser Artikel erschien zuerst im MISEREOR-Magazin „frings.“ Das ganze Magazin können Sie hier kostenfrei bestellen >

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

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    Es ist gut, dass Misereor die Tacanas im Kampf um ihren Lebensraum unterstützt.
    Kann Misereir nicht eine Klage vor den UN oder einem UN-Gericht unterstützen? Oder Unterschriften sammeln?
    Herbert Kaefer

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