MISEREOR-Kongress „Entwicklung findet Stadt“ schaut in die Zukunft der Weltbevölkerung
An Geburtstagen wendet sich der Blick – bewusst oder unbewusst – oft in die Vergangenheit. In einem Rückblick auf das bisherige Leben werden sowohl Erfolge als auch Irrwege in Erinnerung gerufen. Anders machte es nun MISEREOR: Seinen 60. Geburtstag nahm das Werk für Entwicklungszusammenarbeit zum Anlass, um bei einem Kongress zum Thema Stadtentwicklung „Entwicklung findet Stadt“ in Frankfurt in die Zukunft zu schauen.
Dabei wurde deutlich: Es braucht einen Perspektiv- und Paradigmenwechsel! Immer mehr Menschen zieht es in die Stadt. Frankfurt wächst jährlich etwa um 15.000 Menschen. In der indischen Hauptstadt Delhi kommen im selben Zeitraum sogar durchschnittlich 800.000 Einwohnerinnen und Einwohner dazu. Und Prognosen zeigen: Im Jahr 2050 werden gut zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Das sind etwa sieben Milliarden Menschen und damit fast so viel wie die heutige Weltbevölkerung. Für die sonst eher ländlich geprägte Entwicklungszusammenarbeit bedeutet das, einen Fokus auf die Metropolen dieser Erde zu setzen.
Jahrhundertchance für Nachhaltigkeit
Die wachsende globale Verstädterung sei eine „Jahrhundertchance“, findet Almuth Schauber, MISEREOR-Referentin für städtische Entwicklung mit dem Schwerpunkt Asien. „Wir haben nun die Gelegenheit, dieses Wachstum als Zivilgesellschaft aktiv mitzugestalten. Dabei muss es ein primäres Ziel sein, durch einen effizienteren Umgang mit den natürlichen Ressourcen klimaneutrale und menschenfreundliche Städte zu gestalten“.
Ein Beispiel hierfür stellt Marcelo Waschl, MISEREOR-Referent für städtische Entwicklung mit dem Schwerpunkt Lateinamerika, vor: „Im kolumbianischen Medellín oder in La Paz, Bolivien, ergänzen Seilbahnen das städtische Verkehrsnetz. Das zeitsparende und umweltfreundliche Transportmittel entlastet verstopfte Straßen. Und es ist auch für die Armen erschwinglich, die im Stadtzentrum arbeiten, aber in Randbezirken leben.“
Auch Klaus Teschner, MISEREOR-Referent für städtische Entwicklung mit dem Schwerpunkt Afrika, sieht für seinen Arbeitsbereich Vorteile: „Die Kinderzahl pro Familie nimmt in den Städten viel schneller ab als auf dem Land. Das wird hilfreich dabei sein, den Bevölkerungszuwachs eines dann mehrheitlich städtischen Afrikas insgesamt zu begrenzen.“
Städtische Planung muss Arme in den Fokus rücken
Mit Blick auf MISEREOR-Partnerorganisationen, die die Position der städtischen Armen stärken, erläutert Almuth Schauber: „Es geht um eine aktive Gestaltung der knappsten urbanen Ressource, nämlich Raum. Wenn städtische Arme in die Entwicklung und Planung ihrer Städte einbezogen werden, wenn ihre Interessen, Bedürfnisse und Rechte berücksichtigt und respektiert werden, kann nachhaltige Entwicklung gelingen.“
So sei es beispielsweise Ziel der Partnerorganisationen in lateinamerikanischen Städten durch Stadtteilverbesserungsmaßnahmen auch eine Verdichtung von Wohnraum durch mehrgeschossigen Häuserbau zu erzielen, berichtet Marcelo Waschl. Frei werdende Räume werden gezielt zu Grünflächen und Spielplätzen umfunktioniert. Solche Stadtteilaufwertungen erfolgten oft in kooperativer Selbsthilfe und Eigenorganisation.
Gerade die städtischen Armen kommen allerdings in Stadtentwicklungsplänen meist nicht vor. Sie leben aus der Not heraus in informellen Siedlungen. Diese ligen ot in Gefahrenzonen wie Schluchten und Hanglagen, an Flussufern und -mündungen oder an Küsten. Dies ist meist keine freiwillige Option, sondern dem Mangel an (bezahlbarem) Wohnraum geschuldet. Dadurch werden sie jedoch nicht als vollberechtigte Bürgerinnen und Bürger anerkannt, weshalb sie nicht oder nur sehr mangelhaft an die Grundversorgung mit Basisinfrastrukturen, Schulen und Krankenhäuser angebunden sind. Gleichzeitig sind sie besonders stark von den Folgen des Klimawandels, wie beispielsweise dem steigenden Meeresspiegel, betroffen. Sie selbst tragen jedoch nur wenig zur Belastung der Umwelt und dadurch zu klimatischen Veränderungen bei. Sie kompensieren sogar den ressourcenraubenden Lebensstil von Industriegesellschaften und der sich weltweit entwickelnden Mittel- und Oberschicht.
Katastrophenschutz-Projekte zu Lasten der Ärmsten
Der Weltrisikoindex stuft philippinische Städte bei der Gefährdung durch Naturgewalten auf Rang zwei ein. Prognosen zufolge werden auf den Philippinen bis 2050 13,6 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner ihr Zuhause aufgrund des Meeresspiegel-Anstiegs verlieren. Katastrophenschutzprojekte sollen den Stadtraum vor Überflutungen schützen. In Metro Manila, der Region um die philippinische Hauptstadt, leben etwa 13 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. 1,2 Millionen Menschen von ihnen sind von negativen Folgen solcher Katastrophenschutzprojekte betroffen. Leidtragende sind insbesondere Bewohnerinnen und Bewohner informeller Siedlungen, die in Wassereinzugsgebieten leben. Sie verlieren ihre Wohnungen, häufig ohne jede Kompensation.
MISEREOR und seine Partnerorganisationen konnten in Manila zeigen, dass der Bau von Schutzmaßnahmen und der gleichzeitige Verbleib der Bewohnerinnen und Bewohner in ihren Siedlungen miteinander vereinbar und finanzierbar sind. Hierfür müssen die Betroffenen gut organisiert sein, um alternative Planungen und Landvergabe anzuregen, politischen Druck auszuüben, bezahlbare Finanzierungen zu suchen und schließlich die Planung umzusetzen. Ein starker Organisationsgrad stärkt die Position der Bewohnerschaft und ist Voraussetzung dafür, dass bei den Entscheidern der politische Wille zugunsten eines Projekts entsteht, bei dem niemandem unzumutbare Nachteile entstehen. Solche Lösungen sind für die Betroffenen auch deshalb wichtig, da sie so die Möglichkeit haben, legalisierten Wohnraum zu erhalten. In Anbetracht des Klimawandels wird es immer mehr darum gehen, die Anpassung der Bevölkerung an die Folgen der Erderwärmung sozialverträglich zu gestalten.
Savanne oder Millionenstadt?
Unser Bild von Afrika, Asien, Lateinamerika ist trügerisch und verzerrt
In Europa und Nordamerika überwiegt ein ‚Afrika-Bild‘, das geprägt ist von Savannen, wilden Tieren und ländlichem Leben mit Stammestraditionen. Dieses Bild ist trügerisch und verzerrt: Aktuell leben bereits vier von zehn Afrikanerinnen und Afrikanern in Städten, 2040 wird der Kontinent mehrheitlich urban sein mit weit über einer Milliarde Stadtbewohnerinnen und -bewohnern; mehr als in Nordamerika und Europa zusammen.
Das westliche ‚Asien-Bild‘ ist zweigeteilt. Neben Städten wie Singapur, Hongkong, Mumbai oder Peking verbinden wir Asien mit ländlichen Attributen wie idyllischen Reisterrassen. Inzwischen sind auch gesundheitsschädlicher Smog und Verkehrsstaus Teil unseres Asienbildes. Insgesamt gilt Asien als zu rund 50 Prozent urbanisiert, eine Zahl, die nur deshalb so hoch ist, weil das bevölkerungsreiche und stark urbanisierte China mitgerechnet wird. Gleichzeitig leben 55 Prozent aller Städterinnen und Städter weltweit und 50 Prozent aller städtischen Armen in Asien. Das liegt daran, dass in asiatischen Ländern mehr Menschen leben als in anderen Kontinenten.
Besonders stark urbanisiert ist Lateinamerika mit rund 80 Prozent. Marcelo Waschl hebt hervor: „Markant ist hier die soziale und räumliche Ausgrenzung zwischen Stadtteilen der ökonomisch besser gestellten Bevölkerungsschichten und armen Bevölkerungsgruppen“. Diese gespaltenen Stadtstrukturen entstehen durch informelle, nicht anerkannte Armenviertel auf der einen Seite und sogenannten „gated communities“ auf der anderen. Diese privilegierten Siedlungen werden durch Absperrung der sonst öffentlichen Zugänge sowie durch Geländeumzäunung (teilweise sogar von öffentlichen Grünanlagen) geschützt und teilweise durch bewaffnetes Personal und Kameras vollkommen überwacht und abgeriegelt. „Innerhalb dieses Kontextes gehören Gewalt, Kriminalität und Spannungen oftmals zum Alltag“, erklärt Marcelo Waschl.
Dieser Artikel erschien zuerst im „Straubinger Tagblatt“ am 30. Juli 2018.
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Kongress „Entwicklung findet Stadt“ – Blick nach vorn zum Sechzigsten