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Religion und Außenpolitik: „Diese Arbeit muss unbedingt fortgesetzt werden“

Die Kirchen haben mit Bedauern auf die vorläufige Einstellung des Projekts „Religion und Außenpolitik“ im Auswärtigen Amt reagiert und eine Weiterführung gefordert. Nach Kritik an der Berufung der stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Nurhan Soykan, zur Beraterin für das Team hatte das Außenamt mitgeteilt, dass das Projekt vorerst ruhen werde. Die Personalie wurde teils heftig kritisiert. Der Vorwurf antisemitischer und islamistischer Positionen steht im Raum, vor allem gegen eine Mitgliedsorganisation des Zentralrats. Das Auswärtige Amt will nach eigenen Angaben einen Beratungsprozess über die Zukunft des Projekts starten. Zur Einschätzung der Vorgänge sprachen wir mit Stefan Willmutz, der bei MISEREOR in der Stabsstelle des Vorstands unter anderem für die Bereiche „Religion und Entwicklung“ und „Religion und Außenpolitik“ zuständig ist. Er hat bis vor wenigen Wochen selbst im Auswärtigen Amt im Bereich „Religion und Außenpolitik“ gearbeitet.

Stefan Willmutz
Stefan Willmutz ist bei MISEREOR in der Stabsstelle des Vorstands unter anderem für die Bereiche „Religion und Entwicklung“ und „Religion und Außenpolitik“ zuständig. Foto: Ralph Allgaier I MISEREOR

Das Auswärtige Amt lässt die Arbeit des Referats „Religion und Außenpolitik“ vorerst ruhen. Wie ist diese Entscheidung zu bewerten?

Stefan Willmutz: Der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat im Jahr 2016 – damals noch als Außenminister – damit begonnen, Strukturen zu schaffen, um die Friedenpotenziale der Religionsgemeinschaften besser für die Außenpolitik der Bundesregierung zu erschließen. In der Folge sind diese Strukturen immer weiterentwickelt worden. Hintergrund war die Erkenntnis, dass die klassische Außenpolitik zwischen Regierungen immer wieder an Grenzen stößt und man deshalb die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Kräften erweitern sollte. Religionsgemeinschaften sind die größten Organisationen der Zivilgesellschaft, sie arbeiten zudem über die Grenzen von Ländern und Kontinenten hinweg. Die Entscheidung, diese Arbeit nun zunächst nicht weiterzuführen, kommt für mich völlig überraschend, weil das Referat bislang erfolgreich gearbeitet hat. Aus Sicht von MISEREOR ist die Fortsetzung der Aktivitäten im Bereich „Religion und Außenpolitik“ ausgesprochen wichtig. Diese sollten unbedingt fortgesetzt werden.

Wie sind die Aussichten, dass es bald wieder weitergeht?

Willmutz: Das ist schwer einzuschätzen. Man sollte aber bei der Gelegenheit daran erinnern, dass es in den vergangenen Jahren im Auswärtigen Amt mehrere große internationale Konferenzen gab mit Vertreter*innen großer Religionsgemeinschaften. 2017 fand eine Veranstaltung zu Subsahara/Afrika statt, 2018 kamen Religionsvertreter aus Asien zusammen, im selben Jahr gab es eine weitere Konferenz in New York mit Religions-Repräsentanten aus Lateinamerika und Nordamerika, und im vergangenen Jahr wurde die Weltversammlung der „Religions for Peace“, der größten religionsübergreifenden Nichtregierungsorganisation weltweit, in Deutschland durchgeführt – mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes und des Referates „Religion und Außenpolitik“. Die Veranstaltung war ausgesprochen erfolgreich mit über 1000 Religionsvertreterinnen und Religionsvertretern aus mehr als 100 Ländern. Diese haben sich eine ganze Woche lang darüber ausgetauscht, wie sie gemeinsam eine positive Weiterentwicklung in der Welt unterstützen können – und das im Zusammenwirken mit der Politik. Mit diesen wichtigen Arbeiten, Maßnahmen und Konferenzen konnte also schon einiges erreicht werden an Intensivierung des Austauschs zwischen Religionsgemeinschaften, Zivilgesellschaft und Politik. Man hat sich besser kennengelernt, weiß um die verschiedenen Ansichten und wo man gemeinsam mit der Politik und den Religionen etwas erreichen kann. Darin steckt ein riesiges Potenzial, und deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, diese Arbeit auch nur ruhen zu lassen, geschweige denn einzustellen.

Das heißt, der Einfluss der Religionsgemeinschaften darf nicht unterschätzt werden?

Willmutz: Der Einfluss ist weltweit als ausgesprochen hoch einzuschätzen. Untersuchungen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung einer Religionsgemeinschaft angehört. Deshalb muss Außenpolitik immer auch die Dimension der Religiosität zwingend mitberücksichtigen. Religion ist für die Menschen eine Kraftquelle, spendet Hoffnung, bietet Halt und gibt Orientierung. Die großen Religionsgemeinschaften sind die größten kontinent- und länderübergreifenden zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie verfügen über Strukturen teilweise bis in die hintersten Winkel eines Landes, wo Strukturen der jeweiligen Regierungen oft nicht oder nur wenig vorhanden sind. Vertreter von Religionsgemeinschaften verfügen häufig über eine größere Glaubwürdigkeit als die Vertreter von Regierungen. Sie können politische und gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich beeinflussen, positiv wie negativ. Und Letzterem gilt es durch eine intensivere Kooperation vorzubeugen.

Gibt es Beispiele für den von Ihnen benannten positiven Einfluss von Religions-Vertretern auf die Politik?

Willmutz: Es gibt zahlreiche Initiativen, die sehr erfolgreich waren. Denken Sie an den Friedensprozess in Kolumbien in den vergangenen Jahren zwischen der Zentralregierung und der FARC-Guerilla. Dieser wurde maßgeblich unter Einbeziehung kirchlicher Organisationen, zum Teil auch MISEREOR-Partnerorganisationen, verhandelt. Das Friedensabkommen wird auch bei der Umsetzung vor Ort gestützt durch Organisationen zum Beispiel der Katholischen Kirche. Wir haben in Mali derzeit eine ziemlich prekäre Situation, dort gibt es große islamische Gemeinschaften, die großen Einfluss auf die verschiedenen Konfliktparteien haben, und es wäre schlicht töricht, nicht mit diesen Organisationen und den dazugehörigen Personen zusammenzuarbeiten, weil sie ein zentraler Player in solchen Konfliktsituationen sind.

Was können Religionen, was staatliche Institutionen nicht vermögen?

Willmutz: Religionsgemeinschaften können manchmal größere Zahlen von Personen erreichen, sie können sie auch überzeugen, sich entweder positiv interessensverbindend zu äußern oder eben auch negativ. Sie können einen Konflikt massiv anheizen, weil sie in vielen Ländern den entsprechenden Einfluss haben. Gleichzeitig können sie aber auch die Versöhnung in den Mittelpunkt stellen, den Dialog und das Aufeinanderzugehen – bis hin zu der Frage des Verzeihens, des Vergebens und der gemeinsamen Buße. Da haben Religionsgemeinschaften vielfältige Möglichkeiten. Sie können positive Veränderungen bewirken, die Regierungen alleine nicht erreichen können.

Woran hat das Referat „Religion und Außenpolitik“ zuletzt schwerpunktmäßig gearbeitet, und was gerät durch den gegenwärtigen Stillstand womöglich ins Hintertreffen?

Willmutz: Das Referat hat die bereits erwähnten Konferenzen durchgeführt und arbeitet intensiv mit „Religions for Peace“ zusammen. Es versucht die Rolle von Frauen in den großen Religionsgemeinschaften zu stärken, und Jugendliche sollen darin unterstützt werden, ihre Potenziale für die Weiterentwicklung der Gesellschaften stärker einzubringen. Große politische Themen – wie etwa Konfliktvermittlung, Flucht und Migration, Armutsbekämpfung, Klimawandel, Unterstützung der Zivilgesellschaft – sind maßgebliche Bereiche, an denen Religionsgemeinschaften mitarbeiten und die sie positiv im Sinne der Politik der Bundesregierung beeinflussen können. Wenn man dieses große Potenzial nicht nutzen würde, wäre das schlicht fahrlässig.

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Ralph Allgaier arbeitet als Pressesprecher bei Misereor.

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