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Kolumbien – Zivilgesellschaft befürchtet Rückkehr zum Krieg

Kolumbien droht der Rückfall in die Logik des Krieges. Die Situation hat sich in den vergangenen zwei Jahren dramatisch verschlechtert. MISEREOR sorgt sich zunehmend auch um die Sicherheit seiner Partnerorganisationen.

Menschenrechtsproteste in Kolumbien
Insgesamt haben die Übergriffe gegen Engagierte aus der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger*innen stark zugenommen. (Bild: Screenshot)

Die Sicherheitslage und der Schutz unserer Partnerorganisationen wird schwieriger und macht uns große Sorgen. Es gibt wieder häufiger Morddrohungen gegen sie, weil sie sich für die Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen und die Umsetzung des Friedensabkommens einsetzen. Auch wegen der Ermittlungen gegen den Ex-Präsidenten Uribe werden sie unter Druck gesetzt: Seine Partei und Anhänger*innen investieren viel Geld in eine inzwischen auch international ausgerichtete Diffamierungskampagne, die sich gegen seine Kritiker*innen und den Obersten Gerichtshof richtet.

Aggressionen gegen Zivilbevölkerung

Insgesamt haben die Übergriffe gegen Engagierte aus der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger*innen stark zugenommen. In ehemaligen Konfliktregionen häufen sich Massaker und Aggressionen gegen die Zivilbevölkerung. Das gilt auch für Regionen wie Nariño oder Norte de Santander, die von der Regierung für die Landwirtschafts- und Kokasubstitutionsprogramme priorisiert wurden. Diese kommen in den Hochglanzberichten für die internationalen Geber als Erfolgsgeschichten der Implementierung des Friedensabkommens vor. Die deutsche Bundesregierung gehört zu den wichtigsten Geldgebern für den Friedensprozess in Kolumbien.

Friedensabkommen effektiv umsetzen

Vor diesem Hintergrund haben die drei landesweiten Menschenrechtsnetzwerke Alianza de Organizaciones Sociales y Afines, Coordinación Colombia-Europa-Estados Unidos und Plataforma Derechos Humanos, Deocracia y Desarrollo eine Bilanz des zweiten Jahres der Regierung unter Präsident Duque erarbeitet. Diese Netzwerke repräsentieren mehr als 500 Organisationen aus dem ganzen Land und sind ein Anker für die Zusammenarbeit MISEREORs mit der kolumbianischen Zivilgesellschaft. Die Organisationen fordern, das 2016 geschlossene Friedensabkommen zwischen der Vorgängerregierung und der FARC-Guerilla effektiv umzusetzen und einen sicheren Rahmen für legitimes, zivilgesellschaftliches Engagement herzustellen.

Menschenrechtsproteste Kolumbien
Landesweite Menschenrechtsnetzwerke wie die Plataforma Derechos Humanos fordern, wie hier beim Nationalstreik im November 2019, das Friedensabkommen effektiv umzusetzen. © Stefan Tuschen / MISEREOR

Brennglas COVID-19-Pandemie

Auch die strukturellen Ursachen des Konflikts, insbesondere die Landfrage, und die daraus resultierende Armut und Ungleichheit sowie die Abwesenheit ziviler staatlicher Institutionen werden von der Regierung nicht angegangen. Die Bevölkerung leidet unter einer immer stärkeren Einschränkung ihres Alltags und der Verletzung ihrer Menschenrechte. Die Pandemie lässt diese strukturellen Ungleichheiten in Kolumbien besonders deutlich zutage treten. Das dramatische „Infektionsgeschehen“ und die Todesrate lassen Schlimmeres befürchten. Von Ende März bis Anfang September hatte die kolumbianische Regierung strenge Ausgangsbeschränkungen verhängt und immer wieder verlängert. Obwohl der Höhepunkt der Epidemie in Kolumbien Beobachtern zufolge noch nicht erreicht ist, wurden die Maßnahmen nun drastisch gelockert.

Menschenrechtsproteste in Kolumbien2
Nationalstreik November 2019: Proteste gegen die strukturellen Ursachen des Konflikts wie Armut und Ungleichheit sowie die Abwesenheit ziviler staatlicher Institutionen, die von der Regierung nicht angegangen werden © Stefan Tuschen / MISEREOR

Proteste gegen Machtkonzentration und Polizeigewalt

Die zum Wohle der Bevölkerung verhängte und im 14-Tage-Rhythmus immer wieder verlängerte obligatorische Quarantäne hat sich als effektives Mittel erwiesen, die im November 2019 mit einem Generalstreik begonnenen sozialen Proteste „wegzusperren“. Die Verhängung des monatelangen Notstandes hat die Regierung genutzt, um 164 Dekrete zu erlassen, von denen nur 11 in direktem Zusammenhang mit dem Gesundheitssystem stehen. Mit der Lockerung der Ausgangsbeschränkungen sind auch die Proteste zurück auf die Straße gekommen. Am 9. September, dem nationalen Tag der Menschenrechte in Kolumbien, kam es zu spontanen Kundgebungen und Protesten; ausgelöst durch die Nachricht vom Tod eines Mannes, der am Vortag durch einen unverhältnismäßigen Polizeieinsatz schwer verletzt und in eine Klinik eingeliefert worden war. Auf die Empörung und Wut der Menschen reagierte die Polizei mit Waffengewalt. Die Regierung stellt die materiellen Schäden in den Vordergrund und bezeichnet die protestierenden Einwohner der Stadtviertel als Vandalen oder gar Terroristen. Sie zeigt auf Oppositionspolitiker und bezichtigt sie, die Hintermänner der Proteste zu sein. Mindestens 10 Menschen wurden durch Schusswaffen – aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Sicherheitskräfte – getötet. Von den mehr als 200 Verletzten haben über 50 Schussverletzungen erlitten. Wer den Einsatz scharfer Munition erlaubt oder gar angeordnet hat ist bislang nicht geklärt.

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Stefan Tuschen arbeitet als Referent für Kolumbien bei MISEREOR.

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