Heute erscheint der WeltRisikoBericht mit dem Schwerpunkt „Flucht und Migration“. Er wird alljährlich vom Bündnis Entwicklung Hilft herausgegeben, zu dem auch MISEREOR gehört. Seit 2018 wird der Bericht in Kooperation mit dem Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum herausgegeben. Er widmet sich wechselnd einem anderen Schwerpunktthema. Im Interview erläutert Jonas Wipfler, Referent für Migration und Flucht bei MISEREOR, die aktuellen Herausforderungen, die Bedeutung der Klimakrise als Ursprung für Migrationsbewegungen sowie die gleichzeitige Gestaltung von Migration und Entwicklung.
Der diesjährige Weltrisikobericht steht ganz im Zeichen von „Flucht und Migration“: Welche sind 2020 die hauptsächlichen Auslöser von Migration und Flucht – und welche werden Deiner Ansicht nach mittel- bis langfristig hinzukommen?
Jonas Wipfler: Der Weltrisikobericht schaut in diesem Jahr besonders auf den Zusammenhang von Migration und Klimawandel. Mittlerweile werden mehr Menschen durch die Auswirkungen des Klimawandels vertrieben als durch Konflikte und Krieg. Auch der Vatikan beschäftigt sich dieses Jahr noch einmal ganz besonders mit diesem Phänomen, das häufig nicht zu Migrationsbewegungen ins Ausland führt, sondern vor allem zu interner Vertreibung vor Ort.
Generell bleiben aber ebenfalls Konflikte eine starke Ursache von Fluchtbewegungen – auch über Ländergrenzen hinweg. Zusätzlich gibt es je nach Region auch strukturelle Migrationsgründe wie schlechte Regierungsführung und Menschenrechtsverletzungen oder fehlende Lebensperspektiven für Jugendliche. Aber auch Europa trägt daran eine Mitverantwortung, etwa wenn man an Rüstungsexporte, Ressourcenausbeutung, fehlende Marktzugänge des Globalen Südens oder auch den Klimawandel denkt. Unsere Art zu leben geht auf Kosten von anderen Ländern. Das verhindert in Teilen den Aufbau von Lebensperspektiven vor Ort.
Welche Auswirkungen hat die Klimakrise auf weltweite Migrationsbewegungen?
Jonas Wipfler: Dazu gibt es mittlerweile einige Studien, die beschreiben, dass der Klimawandel zu Wanderungsbewegungen führt. Die Auswirkungen sind aber unterschiedlich: Einerseits gibt es mehr Extremwetterereignisse wie Wirbelstürme oder Überschwemmungen, die zu Vertreibung führen. Meist finden die Betroffenen dann innerhalb ihres Landes Zuflucht und können auch nach einiger Zeit zurückkehren. Daneben gibt es aber auch die schleichenden Klimaveränderungen, die über Jahre zu Dürren, Ernteausfällen, sinkenden Grundwasserspiegeln, zugleich steigenden Meeresspiegeln oder Versalzung der Böden führen. Längerfristig bedroht das die Lebensgrundlage vieler Menschen. Da es aber schleichend geschieht, ist es in den Medien weniger sichtbar. Im Übrigen sind die meisten der Betroffenen gerade diejenigen, die ohnehin weniger widerstandsfähig und ärmer sind und gerade diese Gruppen haben weniger Möglichkeiten, über große Distanzen zu migrieren. Die meisten Wanderungsbewegungen durch den Klimawandel bleiben also örtlich begrenzt in der eigenen Region.
Der Klimawandel verstärkt zudem ohnehin schon vorhandene Konflikte um Ressourcen oder Land – von daher können auch Konflikte zu Vertreibungen führen, die man nicht in erster Linie den Klimaveränderungen zuschreibt, die aber mittelbar damit zu tun haben. Das macht es so schwierig gute Zahlen zu bestimmen, wie groß das Phänomen ist – aber schon jetzt geht man von jeweils 20 bis 25 Millionen Menschen aus, die aufgrund von Wetterereignissen und Katastrophen jedes Jahr neu vertrieben werden.
Zentral ist – so auch der Tenor in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit – die Bekämpfung von Fluchtursachen. Inwiefern ist MISEREOR mit seinen Partnern daran beteiligt? Besteht hier Gefahr, dass diese beiden Ansätze – Bekämpfung der Fluchtursachen und Hilfe sowie Schutz für Geflüchtete – als sich ausschließende Strategien betrachtet und gegeneinander ausgespielt werden?
Jonas Wipfler: Da die sogenannten Fluchtursachen sehr vielfältig sind, kann es keine einfache Antwort darauf geben. Als Erstes braucht es den Schutz der Betroffenen, die unterwegs sind, ganz unabhängig von ihrem Status – das sehen wir derzeit ja brandaktuell, dass das nicht einmal Europa auf eigenem Boden gewährleistet. Das ist ein Armutszeugnis. Daneben braucht es die Schaffung von Perspektiven vor Ort – das heißt einerseits eine engagierte Friedenspolitik und -Förderung durch Staaten und die Zivilgesellschaft. Mit Blick etwa auf Syrien, Libyen und den Jemen bleibt noch viel zu tun.
Zudem sollten Staaten und Zivilgesellschaften vor Ort unterstützt werden, eigene leistungsfähige Wirtschafts- und Sozialsysteme aufzubauen, die Lebensgrundlagen und Sicherheit vor Ort schaffen. Das heißt aber auch, dass Europa nicht einseitig entwicklungspolitisch agieren darf, sondern auch die eigene Handels- und Klimapolitik überdenken muss.
Und beides ist gleich wichtig – der Schutz von Flüchtenden wie auch die Arbeit vor Ort, das eine kann das andere nicht ersetzen. Es geht nicht um die Frage Migration oder Entwicklung, sondern um eine Gestaltung von Migration und Entwicklung. Migration ist eine Realität seit Jahrtausenden und nicht ein Problem, das man lösen kann. Es geht nicht darum, ob Menschen migrieren, sondern wie planvoll, sicher und unter welchen Umständen.
Das Klischee von der „Flucht aus dem armen Süden in den reichen Norden“ wird immer wieder bedient, nicht nur von rechtspopulistischen Kräften. Wie kann MISEREOR einen Beitrag leisten, dieses Narrativ zu entkräften?
Jonas Wipfler: Die Hauptlast der Migrations- und Fluchtbewegungen wird von den Ländern des Globalen Südens getragen, wo es nicht nur die größten Flüchtlingscamps der Welt gibt, sondern auch jede Menge Bespiele funktionierender lokaler Arbeitsmigration. Darauf weisen wir immer wieder hin und begleiten durchgehend über 120 Projekte in diesem Bereich, in denen Partnerorganisationen vor Ort Perspektiven schaffen und Betroffene schützen, über Ausbildung, über Basisdienstleistungen oder auch über eine politische Vertretung oder psycho-soziale Betreuung. Diese Stimmen haben in der Debatte viel zu wenig Raum, aber es gibt sie und wir müssen uns für sie stark machen.
Alle Untersuchungen sagen zudem, dass es gerade nicht die ärmsten Menschen sind, die sich auf den Weg machen – oft haben sie gar nicht die Möglichkeiten dazu. Manchmal wird davon gesprochen, dass Menschen von sogenannten Pull-Faktoren angezogen würden. Migrationsforscher sagen, dass das gedanklich ein verlockendes Konzept sei, aber dass man wissenschaftlich mit diesen Faktoren keine der beobachteten Wanderungen erklären kann. Die Zusammenhänge sind nicht so einfach und Lebensentscheidungen von Menschen funktionieren nicht nach naturwissenschaftlichen Gesetzen. Sonst müssten die ärmsten Länder ja längst entvölkert sein und das ist nicht der Fall. Aus unseren Projekten heraus haben wir eine Menge guter Bespiele wie Zusammenleben funktionieren kann. Nach der Anfangseuphorie 2015 und den Stimmungsschwankungen um das Thema Migration in Europa braucht es jetzt keine populistischen und simplen Antworten, sondern einen realistischen und konstruktiven Umgang mit dem Thema – daran arbeiten wir mit.
Jonas Wipfler ist Referent für Migration und Flucht bei MISEREOR. Zuvor lebte er drei Jahre in Dakar / Senegal, wo er als Berater für lokale Partnerorganisationen in den Bereichen Planung, Monitoring und partizipative Methoden tätig war.
Das Interview führte Tobias Bader, Online-Redakteur bei MISEREOR.