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¡Desaparecido! – Verschwindenlassen in Mexiko: ein Interview

Das Verschwindenlassen von Menschen ist eine fundamentale Menschenrechtsverletzung. Dennoch ist dieses Verbrechen weit verbreitet, insbesondere in Mexiko. Seit 1964 gelten hier rund 73.000 Menschen offiziell als vermisst. Das erzwungene Verschwinden von Menschen ist eine gesellschaftliche und politische Herausforderung. Die Frage, die sich zuvorderst stellt: Wie können die Menschen in Mexiko diese Verhältnisse ertragen? Im Interview äußert sich der Menschenrechtsexperte Edgardo Buscaglia zum Verbrechen des Verschwindenlassens, zur hilflosen mexikanischen Menschenrechtskommission und zur Rolle der Behörden.

Proteste Mexiko Verschwindenlassen
Das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen ist ein schwerwiegendes Verbrechen, das nicht nur die Entführten, sondern auch direkt betroffene Angehörige zu Opfern macht. © Montecruz Foto (CC BY-SA 2.0)

Sehr geehrter Herr Buscaglia, 2019 wurden rund 35.000 Menschen in Mexiko Opfer eines gewaltsamen Todes. Im Schnitt sind das 95 Menschen pro Tag. Häufig sind neben Banden der organisierten Kriminalität auch staatliche Instanzen in die Verbrechen verwickelt. Strafverfolgung und Verurteilung droht den Tätern dabei selten. Wie kann eine Bevölkerung diese Verhältnisse ertragen?

Edgardo Buscaglia: Erstens: Sie gehen korrekterweise davon aus, dass staatliche Instanzen neben kriminellen Banden beteiligt sind. Aber im Unterschied zu Ihrer Behauptung lässt sich feststellen, dass staatliche Behörden sogar Teil dieser kriminellen Banden sind. Dutzende Polizeikräfte auf kommunaler sowie staatlicher Ebene arbeiten regelrecht im Auftrag krimineller Organisationen. Unter anderem beschützen sie ihre Frachten, ihre Sicherheit oder sie bieten Schutz, sodass Waffen, die aus den USA kommen, oder Drogen, die in den Norden geschleust werden, nicht berührt werden. Das ist der Grund, warum so viele Menschen durch die Hände staatlicher Behörden verschwunden sind. Den Tätern droht nur selten Strafverfolgung, da in den meisten Fällen Richter und Staatsanwälte zusammen mit der Polizei in das organisierte Verbrechen involviert sind – insbesondere auf staatlicher Ebene.

Eine zweite Ursache für Straflosigkeit sind staatliche Behörden. Sie sind in den meisten Fällen durch Geld oder Einschüchterung korrumpiert, sodass es für Staatsanwälte und Richter unmöglich wird, Kartelle zu bekämpfen, ohne dem Risiko einer Ermordung zu entgehen. Angst ist also auch ein Grund für die Straflosigkeit. Die Gesellschaft nimmt die Zustände hin, denn sie ist verängstigt. Die Menschen sehen tagtäglich, wie das organisierte Verbrechen Macht über Städte ausübt, indem es Einfluss auf Behörden nimmt, die sich aus einem Netzwerk von Beamten und privaten Akteuren unter der Kontrolle der Kartelle zusammensetzt. Es gibt hierzu keine Gesetze, die es der Regierung ermöglichen könnten, einzugreifen. Deswegen lässt sich in den kleinen Orten beobachten, wie Netzwerke organisierten Verbrechens Mitbürger*innen ermorden und wie Unternehmen und Familien erpresst werden. Andererseits gibt es kriminelle Banden, die Bewohner*innen abgelegener Dörfer mit Grundnahrungsmitteln versorgen und ihre Dienste anbieten und so die Gunst der Bevölkerung erlangen.

Mexiko Protest Mütter der Verschwundenen
Proteste der „Mütter der verschwundenen Töchter und Söhne“: In Mexiko werden mehr als 73.000 Menschen vermisst, allein 2019 gab es über 9.000 neue Fälle. © Wotancito / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Eine dritte Ursache stellt die Entwicklung einer Zivilgesellschaft dar, die Zeit braucht, um sich zu formen und zu formieren. Und das ist einer der Gründe dafür, warum man nur schwache Reaktionen der Zivilgesellschaft sieht. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zivilgesellschaft zwar stark in Sachen Protest verbessert, dennoch sind Gruppierungen sozialer Bewegungen in Mexiko sehr verstreut. Sie bündeln nur selten ihre Kräfte, da die einen eher mit dem linken und die anderen eher mit dem rechten politischen Flügel sympathisieren.

Die sogenannte Gewährleistungspflicht zur Durchsetzung der Menschenrechte wird in Mexiko missachtet. Zwar werden von der mexikanischen Regierung Voraussetzungen für die Umsetzung von Menschenrechten geschaffen, ihre Durchsetzung ist jedoch aufgrund fehlenden politischen Willens weiter in der Schwebe. Wie nehmen Sie die Bestrebungen der mexikanischen Regierung zur Durchsetzung der Menschenrechte wahr? Muss man hier von fehlendem Willen oder Unfähigkeit zum Handeln – oder gar beidem – sprechen?

Edgardo Buscaglia: Es ist die Unfähigkeit zu Handeln. Menschenrechtsorganisationen wie die National Human Rights Commission in Mexiko werden zu politischen Marionetten degradiert. Jede Art von Menschenrechtsverletzung oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie das gewaltsame Verschwindenlassen der 43 Studenten von Ayotzinapa, liegen letztlich in der politischen Verantwortung des Präsidenten. Wenn die National Human Rights Commission zur politischen Marionette des Präsidenten wird, dann sind die Reaktionen wie im Fall der 43 verschwundenen Studierenden im Jahr 2004 schwach. Die Untersuchungen sind nicht unabhängig und werden politisiert. Führen Spuren beispielsweise zu politischen Verbündeten des Präsidenten, so werden Untersuchungen gestoppt. Es gibt also ein Korruptionsproblem der National Commission on Human Rights – auf nationaler Ebene.

Es handelt sich in Mexiko um eine regelrechte humanitäre Krise.

Edgardo Buscaglia

Es ist aktuell nicht anders unter der Regierung López Obrador. Die Präsidentin der National Human Rights Commission, Rosario Piedra, ist eine politische Marionette von Präsident López Obrador. Man kann nicht davon ausgehen, dass sie im Fall von Menschenrechtsverletzungen eine Untersuchung anstrebt, wenn politische Verbündete des Präsidenten vermeintlich involviert sind. Das bedeutet, dass die – sogar für deutsche Verhältnisse – sehr teure National Human Rights Commission nutzlos ist. Sie agiert nur in kleineren Fällen und dabei auch noch sehr ineffektiv. Bei den großen Fällen mit Beteiligung von Regierungsmitgliedern an organisiertem Verbrechen – wie beispielsweise den tausenden Massengräbern überall im ganzen Land – wird sie nur sehr verhalten aktiv. Eine sehr ähnliche Beobachtung lässt sich auch auf Bundesebene machen. Damit möchte ich verdeutlichen, dass es eine Lücke zwischen formellen Gesetzen und ihrer Ausführung gibt. Mexiko hat sehr gute Gesetze, gerade gegen Menschenrechtsverletzungen, aber die starke Verwicklung von staatlichen Autoritäten in das organisierte Verbrechen verhindern ihre Umsetzung.

Verschwindenlassen ist eine multidimensionale Menschenrechtsverletzung, es werden dadurch das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren sowie das Recht auf Schutz vor Folter verletzt. Wie würden Sie die Menschenrechtslage in Mexiko bewerten?

Edgardo Buscaglia: Es handelt sich in Mexiko um eine regelrechte humanitäre Krise. Mexiko investiert sehr viel Geld, um internationale Institutionen davon abzuhalten, eine internationale humanitäre Krise in Mexiko auszurufen. Die bürokratische Elite der Regierung ist mehr daran interessiert, das Image für Investoren und Touristen aufrechtzuerhalten als gegen die Ströme aus Blut aktiv zu werden. Mexiko ist ein regionales ökonomisches Powerhouse. Wäre es ein schwaches Land mit sehr geringer ökonomischer Macht, dann wäre eine internationale humanitäre Krise schon vor Jahrzehnten ausgerufen worden.

Das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen ist ein komplexes Verbrechen, das nicht nur die Entführten zu Opfern macht. Auch direkt betroffene Angehörige sind betroffen. Nicht zuletzt, weil sie in vielen Fällen aus ihrem Alltag gerissen werden und sich der Suche nach Zeugen und dem Verbleib der Verschwundenen widmen. Wie geht die mexikanische Gesellschaft mit der Bedrohung um, Opfer eines solchen Schicksals zu werden? Wird Druck auf die Politik ausgeübt? Wenn ja, welche Methoden werden dabei angewendet?

Edgardo Buscaglia: Das Problem, auf das Sie sich hier beziehen, ist, dass Opfer in der Theorie ein Recht auf eine gerichtliche Aufarbeitung ihres Falles haben. In der Praxis wird dieses Recht von Staatsanwälten nicht berücksichtigt. Die Opfer haben also keine aktive Rolle bei der Anklage der mutmaßlichen Täter. Häufig beobachtet man Familien, die ihre eigenen Ermittlungen durchführen, weil lokale Autoritäten wie Bürgermeister oder andere Politiker in Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen involviert sind. Gerade wenn Bürger für Amtsträger zur Last werden, weil sie Verbrechen der Presse melden.

Im Jahr 2006 rief der damalige Präsident Calderón den War on Drugs in Mexiko aus. Er setzte dabei auf eine Aufrüstung der Polizei und des Militärs. Während seiner Amtszeit und der seines Nachfolgers Präsident Peña Nieto, der von 2012 bis 2018 regierte, stieg die Zahl der Gewaltopfer in der Zivilbevölkerung kontinuierlich an. Wie schätzen Sie die aktuelle Regierung unter Präsident Obrador ein? Kann er den Trend stoppen?

Edgardo Buscaglia: Aktuell kann er es nicht. Ihre Diagnose ist richtig, López Obrador beerbt eine unmögliche Situation und machte den Fehler, Alejandro Gertz Manero, den ehemaligen Generalstaatsanwalt unter Präsident Fox, als Minister für Innere Sicherheit zu ernennen. Gertz Manero gehört jedoch zum alten System, das auf Druck durch Polizei und Militär baut. Er ist ein guter Akademiker, aber Teil der alten Herangehensweise. Er verfolgt den Ansatz, bei Problemen mehr Polizei und mehr Waffen einzusetzen und noch mehr Präsenz zu zeigen. Dasselbe gilt für den Sekretär für Sicherheit und Zivilschutz, Alfonso Durazo, der auch unter Präsident Fox aktiv war und den alten Weg verfolgt.

Die Herangehensweise López Obradors heutzutage ist mehr oder weniger dieselbe wie unter Präsident Fox – nur hinter einer viel schöneren Fassade.

Edgardo Buscaglia

Die Herangehensweise López Obradors ist daher heutzutage mehr oder weniger dieselbe wie unter Präsident Fox, nur hinter einer viel schöneren Fassade. So spricht López Obrador bei seinen Reden häufig von Liebe, Umarmungen und Küssen und davon, dass er den Druck durch Polizei und Militär verringern möchte. Doch am Ende fehlen Mexiko die Institutionen, die es braucht, um das organisierte Verbrechen zu zerschlagen, ohne auf das Militär angewiesen zu sein. Außerdem braucht es Institutionen, um die ökonomische Struktur von organisiertem Verbrechen zu zerschlagen. Damit sind nicht nur Konten gemeint, sondern in erster Linie legale Geschäfte, die das organisierte Verbrechen errichtet hat. Zum Beispiel landwirtschaftliche Betriebe oder Reisebüros, genauso wie tausende andere Geschäfte, die nicht nur der Geldwäsche dienen, sondern auch der logistischen Unterstützung für organisiertes Verbrechen. Mexiko hat keinerlei Institutionen, um diese ökonomische Stärke, die die kontrollierten Unternehmen darstellen, aufzudecken.

Edgardo Buscaglia Menschenrechtsexperte Columbia University New York
„Es lässt sich feststellen, dass Mexiko keine Institutionen hat, um aktiv gegen Korruption auf politischem Niveau vorzugehen.“ Edgardo Buscaglia, Menschenrechtsexperte an der Columbia University in New York. © Eneas De Troya / Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0)

Zudem fehlen in Mexiko die Institutionen, um zu verhindern, dass das organisierte Verbrechen, das sich aus öffentlichen Funktionären und Akteuren zusammensetzt, eine Partei übernimmt. Vor allem, weil es keine systematischen Überprüfungsmöglichkeiten für Parteien oder Kandidaten gibt. Damit meine ich beispielsweise eine Rechenschaftspflicht für die Verwendung von Geldern in der Politik. Die einzige Möglichkeit, so etwas herauszufinden, ist ein Strafverfahren gegen Politiker, wodurch sich manchmal feststellen lässt, woher das Geld kam. Dazu kommt, dass es für das organisierte Verbrechen einfach ist, einen ihrer Kandidaten im Gegenzug für 100.000 bis 200.000 US-Dollar auf die Wählerliste einer Partei zu setzen. So wird es schwierig, die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten und Verstöße zu verfolgen, wenn das organisierte Verbrechen Teil des politischen Systems ist.

Mexiko hat kein Gesetz, das es Gerichten ermöglichen würde, beschlagnahmte Gelder der Zivilgesellschaft zurückzuführen.

Edgardo Buscaglia

Es lässt sich feststellen, dass Mexiko keine Institutionen hat, um aktiv gegen Korruption auf politischem Niveau vorzugehen. Präsident López Obrador hat bisher auch keine Vorschläge in diese Richtung gemacht. Das mexikanische Justizwesen ist also im Hinblick auf seine Effizienz kollabiert. Dann gibt es aber auch noch den Mangel an sozialen Programmen zur Präventionsarbeit. López Obrador denkt, dass er die Armut bekämpfen kann, indem er einfach Gelder investiert. Das ist aber ein großer Fehler; Verstehen Sie mich nicht falsch, gegen Armut vorzugehen ist prinzipiell gut, löst aber nicht das Problem des organisierten Verbrechens. Es braucht also spezifische Präventionsmaßnahmen, die man in Italien oder Brasilien beobachten kann. Da wird jedes Vermögen, das dem organisierten Verbrechen entzogen wird, der Zivilgesellschaft oder Organisationen zurückgespielt, die sich mit der Bekämpfung der Verbrechen befassen. Mexiko hat kein Gesetz, das es Richtern ermöglichen würde, beschlagnahmte Gelder der Zivilgesellschaft zurückzuführen, um solche Programme zu fördern.

Mexiko Protest Mütter der verschwundenen Töchter und Söhne
„Es handelt sich in Mexiko um eine regelrechte humanitäre Krise, aber die Regierung ist mehr daran interessiert, das Image für Investoren und Touristen aufrechtzuerhalten.“ © Wotancito / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Eine weitere Dimension nehmen fehlende Prüfungen durch die Zivilgesellschaft, sogenanntes „Social Auditing“, ein. In Brasilien sowie in rund 67 anderen Ländern kann die Zivilgesellschaft sich selbst zusammentun, um Behörden zu überprüfen. Die Zivilgesellschaft hat durch „Social Auditing“ das Recht einzugreifen, und verhindert somit viele Machenschaften des organisierten Verbrechens.

Zusammenfassend lassen sich also diese Bereiche erkennen, in denen Mexiko die notwendigen Institutionen fehlen, um gegen organisiertes Verbrechen vorzugehen. Die internationale Erfahrung, die durch über fünfzig Veröffentlichungen bekräftigt wird, zeigt, dass es einen Mindeststandard innerhalb der erwähnten Bereiche geben muss, um organisiertes Verbrechen in einem Land dauerhaft zu verringern. Da können Sie so viel Polizei oder Militär einsetzen, wie Sie wollen.

Herr Buscaglia, vielen Dank für das Gespräch.


Zur Person

Edgardo Buscaglia ist seit 2005 Senior Research Scholar an der Columbia University in New York für Law and Economics. Er beriet mehrere Staaten in Fragen der öffentlichen Politik und Wirtschaft sowie der transnationalen Kriminalität. Buscaglia hat zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen Law and Economics sowie Menschenrechte vorgelegt.

Das Interview mit Edgardo Buscaglia führte Jonathan Peters. Er hat den MA-Studiengang Theologie und Globale Entwicklung an der RWTH Aachen University belegt, der u. a. von MISEREOR mitgestaltet wird. Den Kontakt zu Edgardo Buscaglia vermittelte der Filmregisseur Oliver Stiller. Dessen Film Esperanza 43 über die Ereignisse der 43 Studierenden in Ayotzinapa wurde 2016 mit dem Deutschen Menschenrechtsfilmpreis in der Kategorie „Kurzfilm“ ausgezeichnet. Peters schrieb diesen Blogbeitrag im Rahmen des Studienseminars „Gerechtigkeit und Frieden“ (Dozentin: Regina Reinart, MISEREOR).

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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