In mir kommen viele, sehr unterschiedliche Gefühle hoch, wenn ich an die Zeit zurückdenke, die vergangen ist, seit am 30. Januar 2020 der erste indische Fall einer COVID-19-Erkrankung offiziell bestätigt wurde. Die Patientin war eine Studentin der Universität Wuhan in China auf Heimaturlaub in Thrissur, im südindischen Bundesstaat Kerala. Die Angst, das Leiden und die Qualen, die von den Menschen erduldet werden mussten, wecken in mir Mitgefühl und Solidarität mit ihnen. Die Wärme und Menschlichkeit, die sie zeigten, wenn ihre Nachbarn und Weggefährten in Not waren, sind mir Trost und Freude. Unentschlossenheit und Gleichgültigkeit, Herzlosigkeit und Grobheit der politischen Akteure sowie der Strafverfolgungsbehörden rufen Wut und Abscheu hervor. Wenn wiederum Menschenrechtsengagierte und führende Persönlichkeiten zivilgesellschaftlicher Bewegungen sich für die Menschen einsetzen, die von der Corona-Pandemie am schlimmsten betroffen sind, überwiegen Gerechtigkeitssinn und Hoffnung.
Schmerzliche Momente
Da ist beispielsweise die Art und Weise, wie sich die Pandemie ausbreitet: Wenn man den Verlauf graphisch darstellt, erhält man eine stetig ansteigende Kurve. Angst und Sorge ist in meinen Telefonaten mit Familie, Freundinnen und Freunden – nah und fern – allgegenwärtig. Beides zeigt sich auch in WhatsApp-Nachrichten von Kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die direkt mit den Menschen in den Dörfern und Städten zusammenarbeiten. Ich kann nicht anders als schwer betroffen zu sein angesichts ihrer Angst vor einer Infektion oder vor der Stigmatisierung, die auf eine Infektion folgt. Dann sind da noch die Lohn- und Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in unserem Umfeld, teilweise sogar in unseren eigenen Einrichtungen. Die Jobs rinnen ihnen durch die Finger wie Wasser und in ihren Augen steht stilles Leid. Oder die Wanderarbeiterinnen und -arbeiter, von denen die meisten verschuldet und versklavt sind: Die Bilder davon, wie sie mit ihren Familien und Kindern lange Strecken zurückgelegt haben, mit oder ohne Schuhe, um in schweren Zeiten bei ihren Lieben zu sein, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich kann nicht vergessen, wie Menschen wortwörtlich wie Vieh auf Lastwagen und Vans geladen wurden.
Tröstliche Momente
Als die Erfahrungen und Informationen auf mich einzuströmen begannen, wurden die Auswirkungen der Pandemie auf die einfache Bevölkerung für mich zur Gewissensfrage. Die Menschen zu führen und zu trösten, sich an sie zu erinnern und für sie zu beten, ist die eine Sache. Aber das war nicht genug, es musste mehr passieren, ich musste mehr tun. Was für ein großer Trost es war, zu hören, wie reisende Migrantinnen und Migranten nicht nur ihr Leid miteinander teilten, sondern auch Lebensmittel, die sie mitgenommen hatten oder von gutherzigen Menschen auf ihrem Weg bekamen.
Es gab viele bewegende Momente der Solidarität: Obwohl Muslimen aus großen Teilen der indischen Bevölkerung Abscheu und Hass entgegenschlagen, gab ein muslimischer Mitbürger das mühselig zusammengesparte Geld für die Heirat seiner Tochter ungeachtet religiöser Hintergründe hin, um ebendieser Bevölkerung in ihrer Not Linderung zu verschaffen. Eine junge Witwe, die Familie und Kinder nach dem Tod ihres Mannes allein und wider die gesellschaftlichen Strukturen durchbringen muss, trennte sich bereitwillig von ihren Ersparnissen, um die Ärmsten der Armen zu unterstützen. Ein Menschenrechtsaktivist sammelte Spenden von Freunden und Wohltätern. Ein Bettler spendete seine gesamten Einnahmen an die Verwaltung von Madurai, damit die Behörden des Distrikts auch dieses Geld nutzen konnten, um den Betroffenen zu helfen.
Alle diese Momente, in denen so viele aus der Zivilbevölkerung ihr Hab und Gut geopfert haben, um die Armen und Bedürftigen zu unterstützen, haben großen Eindruck auf mich gemacht. Sie sind der lebendige Beweis für die Nächstenliebe, die dem menschlichen Herzen innewohnt.
Doch was haben wir Jesuiten des Institute of Development Education, Action and Studies getan? In mancher Hinsicht hatten wir das Gefühl, dass die Menschen „greifbare“ Hilfe benötigten. So entschieden wir beispielsweise auf die Anfrage der Regierung hin, schnell und je nach Bedarfslage Räumlichkeiten für COVID-19-Patientinnen und Patienten zur Verfügung zu stellen. Das war sicherlich der richtige Schritt.
Außerdem ist es uns gelungen, 19 Wanderarbeiterinnen und -arbeiter aus Nordindien, die in Madurai und Umgebung beschäftigt waren, aus ihrem abhängigen Arbeitsverhältnis zu befreien, sie für über zwei Monate bei uns aufzunehmen und ihre Löhne zu sichern. Das war eine unvergessliche Erfahrung. Darüber hinaus haben wir Aufklärungsvideos erstellt, Lobbyarbeit betrieben und Gerichtsverfahren auf den Weg gebracht – auch das gibt mir Anlass zur Freude. Auch wenn unsere eigenen Ressourcen knapp waren, konnten unsere Freiwilligen über 2.000 bedürftige Familien mit Lebensmitteln und Schutzausrüstung unterstützen. Doch natürlich ist all das nicht genug. Im Angesicht der aktuell immer schlimmer werdenden Lage in der Corona-Pandemie ist weitere Unterstützung notwendig.
Leidvolle Momente
Das Leben hat jedoch nicht nur Sonnen- sondern auch Schattenseiten. Was mich in der momentanen Situation am meisten belastet oder, besser gesagt, sehr wütend macht, ist die Gefühlskälte und Herzlosigkeit des Regierungsapparats. Viel zu spät hat man auf die Krise reagiert, die durch das Coronavirus ausgelöst wurde. Der Lockdown, der folgte, war unüberlegt. Die Anzahl der Hilfspakete, die ausgeteilt werden, ist viel zu gering. Die Polizei führt, vollkommen ungerechtfertigt, gewaltsame Einsätze durch. Den Medien wird untersagt, über die Situation zu berichten. Der Regierungsapparat regiert gleich einem faschistischen Regime und hat kein Interesse an demokratischen Vorgehensweisen. Die Polizei greift ohne Skrupel Menschen an.
Man versucht, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf vermeintlich religiöse oder ethnische Themen und Konflikte zu lenken, anstatt sich um die Nöte und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger zu kümmern. Es werden Unsummen von Rupien für das Parlamentsgebäude ausgegeben. Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten werden mundtot gemacht. Kurzum: Das Verhalten des politischen Regimes ist, gelinde gesagt, widerlich. Es besteht die reale Gefahr, dass die Machthaber Indiens die momentane Situation für ihre Zwecke ausnutzen und versuchen, ihr Vorhaben einer Hindu-Nation zu verwirklichen. Die Anzeichen dafür sind bereits für alle spürbar. Was zunächst als ein Gesundheitsproblem deklariert wurde, wird nun von den Machthabern als politischer Glücksfall instrumentalisiert!
Ein Hoffnungsschimmer
Noch ist allerdings nicht alles verloren. Der unermüdliche Einsatz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern, Volksbewegungen und Oppositionsparteien gab und gibt weiterhin Grund zur Hoffnung. Sie laufen gegen das Verhalten der Regierung Sturm. Es stimmt, dass es während des Lockdowns keinen Raum für Demokratie mehr gab. Dies hat die genannten Kräfte parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition jedoch nicht davon abgehalten, aktiv zu werden. Sie haben die politischen Mächte in digitalen Meetings sowie in Erklärungen und Forderungen zur Situation auf ihre moralischen Verfehlungen und politischen Versäumnisse sowie auf ihre verfassungsrechtlichen Verpflichtungen aufmerksam gemacht.
Bohrende Fragen
Durch die Corona-Pandemie durfte ich entdecken, welcher Reichtum an Menschlichkeit und Solidarität in den gewöhnlichsten Menschen schlummert. Gleichzeitig hat das Virus viele Missstände in der Gesellschaft offengelegt: die Zerbrechlichkeit des Lebens der Armen, die zunehmende gesellschaftliche Spaltung, die unfassbare Krise der Wanderarbeiterinnen und -wanderarbeiter sowie den aggressiven Staatsterror. Bohrende Fragen quälen mich: Mache ich genug in meinem Arbeitsbereich? Haben wir für unseren pastoralen Dienst die richtige Perspektive und Strategie gewählt? Sollten wir nicht bei all unseren Bemühungen am meisten Wert auf Menschenrechte, das demokratische Ethos und die Verfassungsgrundsätze legen? Sollten wir nicht die Prioritäten und Strategien unserer Mission für unsere Provinz Madurai überdenken? Sollten wir unser Personal und unsere Ressourcen nicht stärker dafür einsetzen, den Ärmsten der Armen zu helfen? Sind wir genug mit weltlichen Organen vernetzt? Was können wir dafür tun, dass unsere Bildungsarbeit die Menschen stärker zum Nachdenken anregt und sie dabei unterstützt, eine eigene Meinung zu bilden? Sollte unser soziales Engagement in Zukunft nicht vor allem darin bestehen, eine sozio-politische Lobby-Strategie zu entwickeln?
Das Coronavirus – egal ob menschen- oder naturgemacht – wird uns noch einige Zeit begleiten. Bereits jetzt hat das Virus verheerende Auswirkungen für Millionen von Menschen weltweit. Daran wird sich in Indien auch in den kommenden Monaten nichts ändern. Das Virus hat dazu geführt, dass wir viele Dinge erkannt haben und auch in der Zukunft erkennen werden. Es hat uns viele unserer falschen Annahmen und Trugschlüsse vor Augen geführt. Durch das Virus werden zudem viele Fragen aufgeworfen, über die wir nachdenken müssen. Ich glaube, dass jetzt die Zeit dafür reif ist, dass göttlich inspirierte Prophetinnen und Propheten an vorderster Front diesen Fragen nachgehen und das Licht der Gerechtigkeit und die Blüte der Hoffnung in die Welt tragen.
Über den Autor: Aloysius Irudayam, S.J., ist Ordensprovinzial der Provinz „Jesuit Madurai Province“ und Leiter des Institute of Development Education, Action and Studies (IDEAS) in Madurai, Indien.