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Ein mutiges Projekt in einer fast vergessenen Gegend

Ursula Kölbel lebt und arbeitet in der Demokratischen Republik Kongo. Seit Juli 2018 leitet sie die Dialog- und Verbindungsstelle von MISEREOR (DVS) in Kinshasa und arbeitet mit den Partnerorganisationen des Werks für Entwicklungszusammenarbeit persönlich zusammen. Im Interview erzählt sie von ihrem Lieblingsprojekt, in dem ehemalige Kindersoldat*innen bei ihrem Weg zurück ins zivile Leben begleitet werden.

Im neuen Ausbildungszentrum in Dungu können traumatisierte Jugendliche einen Beruf erlernen und sich auf ihr zukünftiges Leben vorbereiten.
Im neuen Ausbildungszentrum in Dungu können traumatisierte Jugendliche einen Beruf erlernen und sich auf ihr zukünftiges Leben vorbereiten. © DVS Kongo

Liebe Frau Kölbel, Sie kennen die MISEREOR-Projekte im Kongo sehr gut. Welches davon ist Ihr Lieblingsprojekt als DVS-Leiterin?

Ursula Kölbel: Vor ein paar Wochen hätte ich das nicht so einfach sagen können, aber ich bin vor Kurzem aus einem neuen Projekt des Ordre de St. Augustin in Dungu, einer Stadt in der Provinz Haut-Uélé im Norden des Landes, zurückgekommen. Darin geht es darum, traumatisierten Jugendlichen eine Lebensperspektive zu vermitteln. Viele von ihnen haben Jahre bei den Rebellen der „Lord‘s Resistance Army“ (LRA) im Busch verbracht. Sie zu stabilisieren, damit sie zurück zu ihrer Familie, zu einer Gastfamilie oder auch ein selbständiges Leben im eigenen Haushalt führen können, ist ein Ziel des Projekts.

Was hat Sie daran so begeistert? Was macht das Projekt zu etwas Besonderem?

Ursula Kölbel: Für mich ist es wichtig, dass MISEREOR im Kongo auch mal die eingetretenen Pfade verlässt. Hier gibt es Regionen, die viel internationale Aufmerksamkeit genießen, und wo sich ganz viele Entwicklungsorganisationen tummeln. Das ist zum Beispiel die Hauptstadt Kinshasa oder die Kivu-Region an der Grenze zu Uganda, Ruanda und Burundi. Seit ich hier arbeite, weiß ich, dass es noch viele andere Gegenden gibt, wo Menschen große Not leiden und es kaum jemand wahrnimmt. Das Projekt in Dungu ist eins der Projekte, die in einer ganz vergessenen Region liegen. Von daher liegt es mir sehr am Herzen.

Worum geht es in dem Projekt? Wie können wir uns die Arbeit des kongolesischen Augustiner-Ordens konkret vorstellen?

Ursula Kölbel: Ab circa 2008 hat in Haut-Uélé die „Lord‘s Resistance Army“, kurz LRA, gewütet. Zu Zeiten der LRA gab es tausende Kinder und Jugendliche, die von den Rebellen entführt wurden. Sie dienten ihnen im Busch als Transporteure, Kämpfer oder Sexsklaven. Die meisten Überlebenden sind so traumatisiert, dass sie nicht einfach in ihr altes Leben und zu ihren Familien zurückkönnen, sofern es noch Familienangehörige gibt. Auch andere Umstände tragen dazu bei, dass es den jungen Erwachsenen schwerfällt, wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen. Da setzt das Projekt an.

Das Projekt des Augustiner-Ordens beinhaltet auch theaterpädagogische Angebote. Hier lernen die Jugendlichen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und gleichzeitig haben sie die Möglichkeit, ihre Kreativität, ihre Persönlichkeit und ihr Selbstvertrauen zu entwickeln.
Das Projekt des Augustiner-Ordens beinhaltet auch theaterpädagogische Angebote. Hier lernen die Jugendlichen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und gleichzeitig haben sie die Möglichkeit, ihre Kreativität, ihre Persönlichkeit und ihr Selbstvertrauen zu entwickeln. © DVS Kongo

Es hat im Grunde zwei Bereiche: Zum einen gibt es ein Zentrum, wo die heute Jugendlichen und jungen Erwachsenen wohnen und zur Schule gehen können. Dort sind zurzeit 40 Jungen und junge Männer untergebracht. Und zum anderen gibt es eine Ausbildungsstätte, in der jährlich 185 junge Frauen und Männer die Gewerke der Tischlerei, Fischzucht, Schneiderei und Landwirtschaft sowie IT-Kenntnisse erlernen können. Wie ich gesagt habe, ist das Projekt noch ganz neu. Das Zentrum ist seit Frühjahr 2021 fertig, und die ersten Schul- und Ausbildungszyklen haben im September begonnen. Dafür wurden spezielle Lehrpläne entwickelt, die an die Bedürfnisse der Zielgruppe angepasst werden. Alle Ausbildungen dauern jeweils sechs Monate, bis auf den Landwirtschaftskurs. Das liegt daran, dass es in der Landwirtschaft im Jahresverlauf viele verschiedene Tätigkeiten gibt und man besser einmal einen ganzen Zyklus durchläuft.

Was sind die entscheidenden Probleme, die die Menschen bewältigen müssen?

Ursula Kölbel: Ich hatte die Gelegenheit, mit drei Jugendlichen aus dem Projekt zu sprechen. Es waren zwei junge Männer und eine Frau, die alle zehn Jahre lang mit den Rebellen im Busch gelebt haben. Thérèse, zum Beispiel war in der ersten Klasse als sie aus der Schule heraus entführt wurde. Allein die Tatsache, dass diese Menschen deshalb keine Schulbildung und keine Kindheit hatten, ist schlimm.

Die Lord’s Resistance Army hatte sich jahrelang im kongolesischen Busch niedergelassen. Viele der von der LRA entführten Menschen lebten dort mit der Terrorgruppe zusammen.
Die Lord’s Resistance Army hatte sich jahrelang im kongolesischen Busch niedergelassen. Viele der von der LRA entführten Menschen lebten dort mit der Terrorgruppe zusammen. © Soteras | MISEREOR

Man muss sich vorstellen, dass die Jugendlichen höchst traumatisiert sind. Sie haben wegen der LRA Familienangehörige verloren, sind verletzt oder entführt worden. Es gibt Berichte, dass die Kinder, die beim Lastentragen zusammenbrachen, sofort erschossen wurden. Andere mussten als Kindersoldaten Menschen erschießen. Dabei ist das typische Vorgehen, dass man sie nach ihrer Zwangsrekrutierung einer Gehirnwäsche unterzieht oder sie unter Drogen setzt, damit sie weniger Zurückhaltung beim Töten verspüren. Die Jugendlichen sind mit all diesen Erlebnissen groß geworden, und diese haben sich tief eingeprägt. Ich sage deshalb: Die größte Verwüstung hat die LRA in den Menschen hinterlassen. Das stellt für das Projektteam natürlich eine immense Herausforderung dar. Es gibt sieben Sozialassistent*innen und einen Psychologen, die die Teilnehmenden psychosozial begleiten. Außerdem unterstützt die Augustiner-Stiftung in Rom, die Fondazione Agostiniani, das Projekt, und der deutsche Augustiner-Orden ist ebenso involviert. Die DVS fördert den Austausch mit MISEREOR und anderen Partnerorganisationen im Kongo. Es sind also verschiedene Akteur*innen beteiligt, die mit ihren Kompetenzen zum Gelingen des Projekts beitragen.

Ein Problem für den Orden war zu Beginn, dass die meisten humanitären Organisationen nach dem Zurückdrängen der LRA schnell wieder abgezogen sind und wenig nachhaltige Verbesserungen bewirkt haben. Viele Menschen fühlten sich von ihnen im Stich gelassen. Es war deshalb am Anfang schwierig für die Augustiner, Vertrauen zu gewinnen und der Zielgruppe zu zeigen, dass dieses Projekt nachhaltige und langfristige Ziele verfolgt. Aber genau das ist gelungen, und mittlerweile ist die Nachfrage groß. Das freut uns natürlich, es zeigt aber auch, wie schlecht es vielen Menschen geht und wie viele von ihnen auf Unterstützung angewiesen sind.

Ich finde, es ist ein sehr mutiges Projekt, weil es in so einer abgelegenen Gegend ansetzt, wo der Bedarf nach Unterstützung groß ist.

Das Mahnmal in der Diözese Dungu-Doruma erinnert an das Leid, welches die Lord’s Resistance Army durch ihre Gräueltaten in die Bevölkerung gebracht hat.
Das Mahnmal in der Diözese Dungu-Doruma erinnert an das Leid, welches die Lord’s Resistance Army durch ihre Gräueltaten in die Bevölkerung gebracht hat. © DVS Kongo

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Projekts?

Ursula Kölbel: Das Projekt ist sehr ambitioniert. Die Augustiner wollen erreichen, dass sich das Projekt innerhalb von fünf Jahren selbst finanzieren kann, das heißt ohne fortgesetzte Unterstützung von MISEREOR oder anderen Organisationen. Ich glaube, dass das möglich ist. Die Gegend ist sehr fruchtbar und bietet gute landwirtschaftliche Bedingungen. Die Produkte, die im Rahmen der Ausbildungen erzeugt werden, wie Lebensmittel, Textilien oder auch Möbel, lassen sich in der Region gut verkaufen oder sogar exportieren.

Es wäre fantastisch, wenn sich diese Projekt-Maßnahme tatsächlich nach fünf Jahren selbst tragen könnte. Vor allem hätte das auch eine große Symbolwirkung, denn es würde zeigen, dass die Menschen im Globalen Süden nicht zwangsläufig zehn oder 20 Jahre von Geldgeber*innen aus dem Globalen Norden abhängig sein müssen.


Hintergrund

In der Demokratischen Republik Kongo herrschte von 1998 bis 2003 Bürgerkrieg. Zu dieser Zeit wurden weite Teile des Landes zerstört, jedoch hatte die Bevölkerung danach kaum Zeit sich davon zu erholen. In den Folgejahren richtete die „Lord’s Resistance Army“ viel Unheil an.

Die „Lord’s Resistance Army“ wurde in den 1980er Jahren gegründet. Sie kämpfte in den Folgejahren, zunächst in Uganda, gewaltsam für die Errichtung eines Gottesstaates, der auf den biblischen Zehn Geboten basieren sollte, weshalb sie heute oft als Terrorgruppe bezeichnet wird. Nach dem Scheitern von Friedensverhandlungen zwischen der LRA und der ugandischen Armee in Juba, Südsudan, zog sich die LRA 2008 aus Uganda zurück und richtete ihre Aktionen gegen die Zivilbevölkerung im Südsudan, in der Zentralafrikanischen Republik und in der Demokratischen Republik Kongo. Im Kongo war die nördliche Provinz Haut-Uélé und damit auch die zugehörige Stadt Dungu besonders stark betroffen.

Heute sind die Angriffe der Terrorgruppe weniger durch zerstörte Häuser und Infrastruktur zu erkennen, sondern vielmehr durch die traumatisierte Bevölkerung. Ziel der LRA war es, die Regierung zu stürzen und die Zivilbevölkerung zu bekehren. Im Zuge dessen wurden etliche Menschen getötet oder entführt. Besonders Kinder waren betroffen, sie wurden aus dem familiären Umfeld oder aus der Schule heraus entführt und lebten jahrelang unter schlimmsten Bedingungen mit den Rebellen zusammen. Die meisten Mädchen wurden in dieser Zeit mehrfach sexuell belästigt und vergewaltigt, wohingegen die Mehrzahl der Jungen zu Kindersoldaten ausgebildet wurden.


Mein Lieblingsprojekt

In der Reihe „Mein Lieblingsprojekt“ stellen Misereor-Mitarbeitende regelmäßig Projekte vor, die ihnen besonders am Herzen liegen und geben so Menschen aus dem Süden ein Gesicht.

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Ina Thomas ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei Misereor.

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