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„Wer eine Behinderung hat, steht automatisch in einem schlechten Licht“

Maria Klinkenberg arbeitet in der Abteilung Partnerschaften und Spenderkontakte und betreut seit 2014 verschiedene Großspender*innen von Miereor. Gemeinsam mit einem Ehepaar aus Bonn war sie in Simbabwe. Dort hat sie ihr „Lieblingsprojekt“ vor Ort kennengelernt. Im Interview erzählt sie von diesem bewegenden Projektbesuch.

Mitarbeiterin
Maria Klinkenberg arbeitet seit 1985 bei Misereor und kennt viele der Projekte sehr gut. © Misereor

Liebe Frau Klinkenberg, welches ist ihr Lieblingsprojekt?

Das ist das Projekt des Selbsthilfeverbandes der Eltern von Kindern mit Behinderungen in Simbabwe. Das Projekt wird von Misereor seit 1999 gefördert. Ich habe es mit Spender*innen besucht, und wir waren alle sehr bewegt.

Warum liegt Ihnen das Projekt am Herzen? Was macht es zu etwas Besonderem?

Das Projekt liegt mir am Herzen, weil für Kinder mit Behinderungen eigentlich kein Platz in der Gesellschaft Simbabwes gemacht wird. Wer eine Behinderung hat, steht dann automatisch in einem negativen Licht, und es wird auch nicht zwischen den verschiedenen Behinderungen unterschieden oder nach positiven Fähigkeiten geschaut.

Hinzu kommt noch, dass eine Behinderung zu haben in Simbabwe so stigmatisiert ist, dass viele Väter ihre Familien verlassen. Einige von ihnen arbeiten im Nachbarland Südafrika, andere verlassen die Familie ganz. Wir haben bei unserer Reise deshalb nur die Kinder mit ihren Müttern und Großmüttern kennengelernt.

Kinder bearbeiten Aufgaben in der Schule
Viele Kinder mit Behinderungen sind aus dem öffentlichen Bildungssystem ausgeschlossen. Bei ZPHCA erhalten sie die notwendige Schuldbildung. © DVS | Misereor

Wie kann man sich die Arbeit der Partner vor Ort konkret vorstellen?

Aufgabe des Projekts ist, den Kindern die Möglichkeit zu geben, ihren Tag in einem Zentrum zu verbringen, wo sie mit anderen Kindern zusammen sind, schulische Bildung erhalten und medizinisch versorgt werden. Die Kinder haben ganz unterschiedliche Behinderungen, also körperliche, geistige oder auch beide. Deshalb sind auch die Maßnahmen ganz unterschiedlich. Wir haben zum Beispiel gesehen, wie Kinder Physiotherapie bekommen haben oder auch Perlenketten gebastelt haben. Wir haben sie auch im Unterricht besucht, in dem sie mithilfe von Tiermotiven und Dingen aus der Natur Zahlen gelernt haben. Außerdem wird täglich zusammen gekocht, damit alle mit gesundem Essen versorgt sind.

Organisatorisch läuft das Projekt so ab, dass die Mütter und Großmütter bei der Betreuung reihum mithelfen. Sie werden dahingehend extra geschult und organisieren sich dann gemeinsam. Hinzu kommen noch Ärzt*innen und Physiotherapeut*innen. Aber die meiste Arbeit übernimmt die Projektkoordinatorin Theresa Makwara, die sich wirklich sehr für die Kinder und ihre Familien einsetzt. Zum einen arbeitet sie viel im Büro und kümmert sich um die Verwaltung, aber sie hat zum anderen auch eine wirklich tolle Verbindung zu den Leuten. Sie ist sehr beliebt, und alle Menschen in den Zentren kennen sie. Außerdem hält sie den Kontakt zu den Betroffenen und fragt direkt: Was sind eure Bedürfnisse? Wo gibt es Schwierigkeiten?

Leiterin des Projekts Theresa Makwara
Theresa Makwara ist die Leiterin des Projekts. Sie setzt sich in ganz Simbabwe für Kinder mit Behinderungen ein. © Misereor

Das klingt nach einem Projekt, das Mut macht.

Das ist es auch. Auf diese Weise sehen die Familien, dass sie nicht allein mit ihrer schwierigen Situation sind und dass die Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen nicht stimmen. Die Kinder können zusammen lernen und spielen, und die Eltern können sich vorurteilsfrei austauschen.

Die Inklusion ist Theresa aber auch ein politisches Anliegen. Sie setzt sich dafür ein, dass Behinderungen nicht mehr als so negativ angesehen und die Betroffenen in der Gesellschaft akzeptiert werden.

Familien verbringen gemeinsame Zeit im Projekt
Zusammensein ist der Schlüssel bei ZPHCA. Die Kinder und ihre Familien tauschen sich gegenseitig aus und sind füreinander da. © DVS | Misereor

Was sind Erfolge, die verzeichnet werden können?

Als wir das Projekt 2016 besucht haben, sah es noch nicht so gut aus. Da war das Problem, dass die Regierung den Verantwortlichen eines ihrer Häuser wegnehmen wollte, weil es angeblich auf Regierungsgelände stehen würde. Aber Theresa hat ganz klar gesagt: „Das akzeptieren wir nicht!“ Und hat sich dafür eingesetzt, dass sie das Haus behalten können. Es ist nämlich wichtig, dass die einzelnen Zentren immer in der Nähe des Wohnviertels der Familien sind, damit sie das Zentrum gut erreichen können.

Seitdem hat sich das Projekt gut entwickelt. Trotz der Corona-Pandemie konnten laut Theresa Makwara viele Ziele erreicht werden. Dazu zählen auch, die Barrierefreiheit in der Öffentlichkeit zu erhöhen oder auch die gesellschaftliche Eingliederung der Betroffenen. Zum Beispiel nehmen manche Kinder mit Behinderungen nun an verschiedenen Programmen zur Gemeinschaftsentwicklung teil und sitzen Dorf- und Bezirksversammlungen bei. Außerdem werden immer mehr der Kinder in öffentlichen Schulen angemeldet. Wichtig finde ich auch, dass die gesundheitliche Versorgung der Kinder erheblich verbessert wurde. In den Zentren bekommen sie die spezielle Pflege und Versorgung, die sie dringend brauchen, aber früher nicht bekommen haben.

Was würden Sie sich für das Projekt in Zukunft wünschen?

Ich wünsche mir, dass das Projekt es wirklich schafft, die Gesellschaft ein Stück weit zu verändern. Dass Menschen mit Behinderungen vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft werden und dass man sagen kann „Ja, unser Kind hat eine Behinderung, aber das ist nicht schlimm. Es wird gefördert und hat viele Möglichkeiten.“ Dann müssen sich die Familien nicht mehr schämen, und die Väter laufen nicht mehr weg.


Hintergrund

Wie in vielen anderen afrikanischen Ländern gehören in Simbabwe Menschen mit Behinderungen immer noch zu den am meisten benachteiligten Gruppen. Behinderung wird mit Unfähigkeit gleichgesetzt und oft als eine Bestrafung oder ein Fluch angesehen. In der Folge werden Menschen mit Behinderungen stigmatisiert und vom ökonomischen, sozialen und kulturellen Leben ausgegrenzt. Sie erhalten nicht die für sie notwendige Therapie und Unterstützung, da es viel zu wenige bedarfsentsprechende Einrichtungen gibt. Nur sehr wenige Kinder mit Behinderungen haben Zugang zum Bildungssystem, so dass die überwiegende Mehrheit später nicht in der Lage ist, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.

Auch die Angehörigen von Menschen mit Behinderungen leiden unter der gesellschaftlichen Diskriminierung. Sie leben auf sich allein gestellt am Rande der Gesellschaft, da ihnen auch der Staat keine Unterstützung bietet und die Pflege und Betreuung ihrer Kinder einen großen Teil ihrer Zeit einnimmt.

Nach dem politischen Machtwechsel 2017 ist es der neuen Regierung bisher nicht gelungen, Simbabwe aus der politischen Isolation herauszuholen, die Wirtschaft anzukurbeln und die hohe Inflation zu stoppen. Im Gegenteil, die massive Korruption und der wirtschaftliche Niedergang haben eher zu- als abgenommen, so dass sich die humanitäre Situation von Tag zu Tag verschlechtert. Die aktuelle Corona-Pandemie hat diese Situation noch verschärft. Besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit Behinderungen und deren Familien sind von der wirtschaftlichen Krise und den damit einhergehenden Engpässen im Gesundheitswesen besonders betroffen, so dass ihre ohnehin schon große Benachteiligung noch verstärkt wird.

Die „Zimbabwe Parents of Handicapped Children Association“ (ZPHCA) wurde 1987 von Müttern von Kindern mit Behinderungen in Harare gegründet und ist inzwischen ein landesweit operierender Selbsthilfeverband mit 67 Niederlassungen in verschiedenen Städten und Regionen. Ziel seiner Aktivitäten ist es, nicht nur Menschen mit Behinderungen und deren Eltern direkt zu unterstützen, sondern ihnen auch durch Lobbyarbeit eine Stimme in der Gesellschaft zu geben und erste Schritte der Integration anzustoßen. Seit 1999 fördert Misereor das Projekt mit insgesamt mehr als 600.000 Euro.


Mein Lieblingsprojekt

Lieblingsprojekt

In der Reihe „Mein Lieblingsprojekt“ stellen Misereor-Mitarbeitende regelmäßig Projekte vor, die ihnen besonders am Herzen liegen und geben so Menschen aus dem Süden ein Gesicht.

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Ina Thomas ist Referentin für Kommunikation bei Misereor.

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