„Wahlfreiheit und Risikovorsorge stehen auf dem Spiel“
Im EU-Parlament wird gerade ein Gesetzesvorschlag diskutiert, an dessen Ende eine Deregulierung des bestehenden Gentechnikgesetzes stehen könnte. Zum Beispiel würden bislang erforderliche Studien zur Risikofolgenabschätzung wegfallen. Was das für die Landwirtschaft bedeuten könnte und welche Alternativen es gibt, beschreiben Bess Cruzada, Koordinatorin der APEX-Plattform (Asian People‘s Exchange for Food Sovereignty and Agroecology) und Markus Wolter, Experte für Landwirtschaft und Welternährung bei Misereor.
Herr Wolter, was ist von dem Versprechen zu halten, dass neue Gentechnikverfahren ein geeignetes Mittel sind, Hunger und Mangelernährung in der Welt entgegenzuwirken? Ist da aus Ihrer Sicht etwas dran?
Markus Wolter: Nein. Wir produzieren bereits heute genug Lebensmittel, um weltweit alle Menschen satt zu machen. Doch unser Umgang mit und die Verteilung der Lebensmittel sind ungenügend. Mehr als die Hälfte des weltweit angebauten Getreides landet nicht auf dem Teller, sondern wird als Futtermittel, Agrarkraftstoff oder zur Herstellung von Kunststoff verwendet. Zudem verschwenden wir circa ein Drittel der weltweit erzeugten Lebensmittel. Hier stecken immense Potenziale. Allein die Umstellung von Ernährungssystemen würde einen wichtigen Beitrag leisten, Hunger zu bekämpfen – ohne dass dafür neue Gentechnikverfahren benötigt würden. Seit Beginn der Einführung der Gentechnik wird das Argument der Hungerbekämpfung bemüht, aber bislang ist dafür kein einziges Produkt auf den Markt gebracht worden. Das Gegenteil kann sogar passieren: Gentechnik kann die Ernährungssicherheit gefährden.
Warum?
Wolter: Weil Landwirte und Landwirtinnen in Abhängigkeiten von großen Biotechfirmen und Pestizidherstellern geraten können. Es besteht auch die Gefahr, dass die Auswahl an Saatgut eingeschränkt wird, wenn es in den Händen einiger weniger Konzerne ist. Der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen trägt in der Regel überhaupt nicht zur Ernährungssicherung bei, sondern diese werden häufig für Futtermittel oder Industriezwecke für den Globalen Norden angebaut und nicht vor Ort – also in den Anbauländern – konsumiert. Sie sind für den Export bestimmt.
Frau Cruzada, wie ist die Situation im asiatischen Raum, wo bereits Gentechnik massiv zum Einsatz kommt? Wo wird Gentechnik eingesetzt?
Bess Cruzada: In Asien wie auch in Europa haben die transnationalen Agrarunternehmen und die Biotech-Industrie ihre aggressive Strategie verstärkt, um unsere Lebensmittelsysteme durch ihre input-abhängigen GVO-Pflanzen (GVO: gentechnisch veränderter Organismus) zu dominieren. Also zum Beispiel Input von Pestiziden und chemisch-synthetischem Dünger. Nach Angaben von GVO-Befürwortern sollen neun asiatisch-pazifische Länder 10,2 Prozent der weltweiten Biotech-Anbaufläche besitzen, mit einer geschätzten Gesamtfläche von 19,5 Millionen Hektar. Diese Länder sind Indien, Pakistan, die Philippinen, Australien, Myanmar, Vietnam, Indonesien und Bangladesch. Gentechnisch veränderte Baumwolle und Mais sind die vorherrschenden Nutzpflanzen,
mit veränderten Merkmalen wie Herbizid-Toleranz, Insektenresistenz, Trockentoleranz und erhöhtem Nährstoffgehalt. Die Biotech-Industrie behauptet, dass diese Pflanzen den Landwirten geholfen haben, ihre Erträge zu steigern und die Produktionskosten zu senken, aber die Erfahrungen der Landwirte vor Ort widersprechen diesen Behauptungen.
Was genau zeigen die Erfahrungen von Landwirtinnen und Landwirten?
Cruzada: Auf den Philippinen wurden durch das Kleinbauern-Netzwerk MASIPAG Erhebungen durchgeführt. Etwa 166 Landwirte wurden in den sieben Provinzen mit dem höchsten Anbau von gentechnisch veränderten gelbem Mais befragt. Wie sich herausstellte, sind die Produktionskosten enorm hoch und die Einkommen minimal. Die Produktionskosten lagen zwischen 40.000 und 80.000 Php (zwischen 600 und 1.300 Euro), wobei die meisten Landwirte Verluste von 24.000 Php (400 Euro) hatten. Nur zwei der 12 Gemeinden erzielten in diesem Jahr ein positives Nettoeinkommen, das zwischen 900 und 8.000 Php (15 und 133 Euro) lag.
Die meisten Bäuerinnen und Bauern sind in Bezug auf Produktionskapital und Haushaltsbedarf von Händlern und Finanziers abhängig und zahlen exorbitante Zinssätze. Bei Missernten bräuchten die Landwirte drei gute Ernten, um sich zu erholen und den Bankrott zu vermeiden. Die Händler diktieren durch ihr Angebot, welche Pflanzen angepflanzt und welche chemischen Betriebsmittel verwendet werden sollen, da sie auch von den Saatgut- und Chemieunternehmen Anreize erhalten.
Was sind die Folgen?
Cruzada: Durch das Diktat der Händler und durch die Missernten von gentechnisch verändertem Mais verlieren die Bauern zunehmend die Kontrolle über ihr Land und ihren Lebensunterhalt. Sie sind in einem hoffnungslosen Kreislauf gefangen, da sie weiterhin gentechnisch veränderten Mais anbauen, von dem sie wissen, dass er sie noch tiefer in die Verschuldung treibt. Aber aufgrund ihrer Schulden und der Bindung an die Händler haben sie keine Wahl.
Hat der großflächige Einsatz von gentechnisch verändertem Mais auch Auswirkungen auf die Umwelt? Wenn ja, welche?
Cruzada: Ja. Die Landwirte beklagen den Verlust ihres eigenen Saatguts aufgrund der Nichtverwendung und der gentechnischen Verunreinigung, das Auftreten von Superschädlingen und Superunkräutern außerdem die zunehmende Bodenerosion und Erdrutsche sowie das verstärkte Auftreten von Pflanzenkrankheiten. Insbesondere der Einsatz von Glyphosat, das für Round-Up-Ready-Sorten erforderlich ist, tötet die einheimische Vegetation und macht die Böden anfällig für Erosion. Die Herbizid-Abdrift schädigt auch Gemüse und Obst sowie Hackfrüchte, was sich stark auf die lokale Ernährungssicherheit auswirkt.
Auch Insekten haben eine Resistenz gegen das Bt-Toxin im gentechnisch veränderten Mais entwickelt und befallen sogar Bt-Mais. Die Landwirte beklagten sich zudem über die „schnellere Alterung“ der Böden, die trocken und kompakt geworden sind, so dass sie mehr pflügen und mehr Dünger verwenden müssen.
Herr Wolter, in der EU wird aktuell die Deregulierung des Gentechnikgesetzes verhandelt. Welche Folgen sehen Sie, sollte einer Deregulierung zugestimmt werden?
Wolter: Es steht viel auf dem Spiel. Wenn die so vorgeschlagene Deregulierung kommt, würden bis zu 94 Prozent der Gentechnik-Pflanzen überhaupt nicht mehr reguliert: Sie würden ohne Zulassungsverfahren und ohne Risikoprüfung auf die Äcker und Märkte kommen. Damit würde das Vorsorgeprinzip faktisch abgeschafft, also, dass alle Risiken für Mensch und Natur ausgeschlossen werden müssen. Auch weil es bei gentechnisch veränderten Organismen (GVO) nach einer Freisetzung in die Umwelt keine Chance der Rückholbarkeit mehr gibt. Aus NGT-Pflanzen (NGT, Neue genomische Techniken) hergestellte Lebens- und Futtermittel würden ohne Kennzeichnung und ohne verpflichtende Nachweisverfahren in die Verarbeitung und Supermarktregale gelangen. Ohne Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit gibt es keine Wahlfreiheit für Konsument*innen und Akteur*innen der gesamten Lebensmittelproduktionskette mehr.
Die geplante Deregulierung würde eine neue Patentierungswelle auslösen, da Gentechnikanwendung immer auch mit Patenten auf Saatgut, Pflanzen und Lebensmittel verbunden ist. Große Saatgutkonzerne können ihre Marktmacht so noch weiter ausbauen. Eine gentechnikfreie Pflanzenzüchtung, Saatguterzeugung, Landwirtschaft, Imkerei und Lebensmittelverarbeitung wäre mittelfristig nicht mehr möglich. Aktuell sieht die neue EU-Verordnung keine konkreten Vorsorgepflichten zum Schutz der gentechnikfreien konventionellen und ökologischen Produktion vor.
Frau Cruzada, wie erleben Sie die Debatte um Gentechnik in Deutschland bzw. in der EU?
Cruzada: Wir haben immer zur EU aufgeschaut, wenn es um den Schutz der Umwelt und den Schutz vor GVO ging. Diese neuen Entwicklungen scheinen jedoch darauf hinzudeuten, dass die EU nun bereit ist, die Vorsorge in den Wind zu schlagen und mit der Natur und dem Schicksal künftiger Generationen zu spielen und Märkten und Profiten Vorrang vor dem Wohlergehen ihrer eigenen Bürger und ihrer eigenen Umwelt zu geben.
Bedenken Sie, dass gentechnisch veränderte Organismen (GVO) Patente und Technologien mit sich bringen, die den multinationalen Agrarkonzernen letztlich die Kontrolle über unsere Lebensmittelsysteme geben werden. Die Landwirte werden wahrscheinlich ihr eigenes Saatgut verlieren, der ökologische Sektor wird überfordert sein, und die Herbizide und anderen Chemikalien, die für die GVO-Kulturen benötigt werden, werden die Umwelt zerstören.
Vor allem aber wird der Einsatz von Round Up und ähnlichen Chemikalien sowie die bewusste Entscheidung, welche Gene vermehrt und welche unterdrückt werden sollen, die Anpassungs- und Überlebensfähigkeit unserer biologischen Vielfalt an das sich verändernde Klima und die Umwelt zerstören.
Landwirte, die auf den Philippinen ihren eigenen Reis züchten, bauen beispielsweise alle Sorten an, die sie haben, sowohl traditionelle als auch von Landwirten gezüchtete, weil sie wissen, dass sich die Pflanzen verändern und an die Veränderungen der Umwelt anpassen. Wir wissen nicht, was in der Zukunft passieren wird und welche unserer Pflanzen das rettende Gen haben wird. Alle Gene unserer biologischen Vielfalt zu bewahren und nicht mit ihnen zu spielen, könnte der Schlüssel zum Überleben einer künftigen Generation sein.
Die Landwirtschaft steht angesichts multipler Krisen vor großen Herausforderungen. Welche (alternativen) Wege sehen Sie, Ernährung für eine wachsende Weltbevölkerung zu sichern?
Wolter: Die Prinzipien der Agrarökologie, die mit der Natur und mit den Menschen und nicht gegen sie arbeitet, müssten viel stärker rechtlich verankert, die Beratung und Ausbildung darin gestärkt und finanziell gefördert werden. Die Agrarökologie
hat in Zeiten der Corona-Pandemie bewiesen, wie krisenfest sie ist. Sie ist in der Lage, auf gestörte Lieferketten und erschwerten Zugang zu Lebensmitteln zu reagieren. Mit gesunden, vor Ort erzeugten Lebensmitteln ohne Verwendung von Pestiziden oder Kunstdünger, die nur Abhängigkeiten erzeugen und Mensch und im Falle der Pestizide die Mitwelt schädigen.
Cruzada: Die Agrarökologie erlaubt armen Bäuerinnen und Bauern und der Landbevölkerung, sich selbst zu ernähren und ihre Wirtschaft wieder aufzubauen, indem sie ihre eigenen Ressourcen nutzen. Landwirte, die die Kontrolle über und den Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen haben, können die verfügbaren Ressourcen nutzen, um ihre eigenen ökologischen Betriebsmittel herzustellen. Wenn sie die Grundsätze der Agrarökologie anwenden und etwas Unterstützung erhalten. Sie können ihr eigenes Saatgut lagern und vermehren, ihre Ernten optimal steigern und ihre Erzeugnisse verarbeiten und vermarkten.
Die Landwirte von MASIPAG beispielsweise zeigen, dass Solidarität und harte Arbeit zu einer nachhaltigen Pflanzenproduktion und zur Erschließung von Märkten für die lokale Bevölkerung führen. Wenn Regierungen mehr Vertrauen in die ländlichen Gemeinschaften setzen und ihnen mehr Mittel zur Verfügung stellen würden, damit sie ihre Probleme analysieren und angehen, Prioritäten setzen und ihre eigenen Lösungen finden können, sodass ihre Entwicklung in ihren Händen liegt, dann könnten wir einen Weg finden, wie die ländliche Bevölkerung mehr wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen und sich selbst ernähren und schützen kann.
Bess Cruzada war die nationale Koordinatorin von MASIPAG, einem Projektpartner von Misereor. MASIPAG ist ein philippinenweites Netzwerk von Landwirt*innen, Agrarwissenschaftler*innen und Nichtregierungsorganisationen, das sich dafür einsetzt, dass die Landwirte die Kontrolle über die Landwirtschaft zurückgewinnen, indem sie die biologische Vielfalt selbst erhalten sowie die Verarbeitung und Vermarktung in den Gemeinden übernehmen. Heute arbeitet sie als Koordinatorin von APEX mit Nichtregierungsorganisationen und Bauerngruppen in Asien zusammen, um deren Partizipations- und Befähigungsprozesse durch People-Led Development zu stärken. Bess Cruzada lebt in Deutschland.
Markus Wolter ist bei Misereor verantwortlich für die Themen Landwirtschaft und (Welt-)Ernährung. Seine derzeitigen Schwerpunkte liegen auf der Bilanzierung der Wahren Kosten, Fragen der Welternährung, Zugang zu Boden und nachhaltiger Landwirtschaft. Weitere Informationen: Markus Wolter – Landwirtschaft und Welternährung (misereor.de)