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Der öffentliche Raum: Ein Sprungbrett für nachhaltige Entwicklung

Misereor solidarisiert sich mit besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppen weltweit und bekämpft deren Armut und Machtlosigkeit in Zusammenarbeit mit seinen Partnerorganisationen. Doch was hat der öffentliche Raum mit Armutsbekämpfung und sozialer Teilhabe zu tun? Welche Rolle spielt er in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit? 

Freilichtkino in der Stadt
Freilichtkino: Kinder und Jugendliche schauen sich einen Film auf einem Platz. Brasilien, 2017. © Misereor/ Eduardo Soteras Jalil

Die Welt ist stärker verstädtert als je zu vor und unsere Gesellschaften urbanisieren sich weiter: Während heute bereits mehr als die Hälfte aller Menschen im Städten leben, werden es im Jahr 2050 zwei Drittel sein. Da liegt es auf der Hand, dass der Großteil der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) nur unter der Einbindung städtischer Akteure umgesetzt werden kann und diese entscheidend für die sozial-ökologische Transformation sind. 

Der globale Fahrplan für Stadtentwicklung, die Neue Urbane Agenda, unterstreicht die soziale Funktion menschlicher Siedlungen und die Relevanz des Zugangs zu sicheren, inklusiven, frei zugänglichen, grünen und familienfreundlichen öffentlichen Räumen. Diesem Zugang ist gar ein eigenes SDG-Unterziel gewidmet, aber der öffentliche Raum ist weit über das Entwicklungsziel Nummer 11 der nachhaltigen Städte und Gemeinden hinaus von Bedeutung: Von der Geschlechtergleichheit (SDG5) über Kein Hunger (SDG2) und Gesundheit und Wohlergehen (SDG3) bis hin zum Klimaschutz (SDG13) ist er ein verbindendes Element. 14 der 17 SDGs verankern den öffentlichen Raum gar in ihren Zielvorgaben oder deren Indikatoren.

Umso ernüchternder ist der Blick in den SDG-Fortschrittsbericht der Vereinten Nationen: Im Durchschnitt machten öffentliche Freiflächen im Jahr 2020 nur etwas über drei Prozent der städtischen Fläche aus, etwa viermal weniger als der Anteil der Straßen, die auch zum öffentlichen Raum zählen. Besonders in Städten des Globalen Südens ist der Zugang zu Freiflächen in Gehreichweite eher Ausnahme als Regel und bleibt somit ein Privileg Weniger. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der Krise des öffentlichen Raumes im Zuge von Privatisierungs- und Segregationsprozessen, die nicht selten mit Konsumzwang und selektivem Zugang einhergehen. 

Ziele für nachhaltige Entwicklung
Ziele für Nachhaltige Entwicklung. © United Nations

Die soziale Funktion der Stadt 

Ob Plätze, Parks oder Wege: Der öffentliche Raum ist ein Ort der Begegnung. Er macht die Stadt zu dem, was sie ist, und verkörpert somit ein großes Stück weit ihre Identität. Gehören die Straßen vorwiegend den Autofahrer*innen, oder können sich Kinder auf ihnen angstfrei austoben? Fühlen sich Frauen, Mädchen und queere Menschen auf den Wegen sicher? Werden öffentliche Plätze und Parks in erster Linie von privilegierten Städter*innen genutzt, oder ist dort die Gesellschaft in all ihrer Diversität anzutreffen? Die Gestaltung des öffentlichen Raumes lässt uns Städte verstehen, und dessen inklusive Nutzung ist ein Indikator dafür, wem die Stadt wirklich gehört. Mit anderen Worten: Als Schlüsselelemente der Stadt als Allgemeingut werden in öffentlichen Räumen die oft sperrig klingenden Entwicklungsziele in die Praxis umgesetzt.

Darüber hinaus suggeriert der öffentliche Raum, was in unserer Gesellschaft als “normal” wahrgenommen und akzeptiert wird. Dabei ist er nicht nur Spiegelbild sozialer Normen, sondern beeinflusst diese auch. Was wir in Parks sehen, erscheint uns als gängige Praxis. Ein Kuss, ein Protest, der Verkauf von Drogen oder ein Straßenfest gibt uns eine alltägliche Vorstellung von dem, was sozial akzeptiert ist. Wenn sich keine Rollstuhlfahrenden auf der Straße bewegen, so bedeutet das nicht, dass es sie nicht gibt, sondern, dass ihr Zugang eingeschränkt ist. Ebenso wenig gibt es nicht weniger gleichgeschlechtliche Paare, weil sie im Stadtbild unsichtbar sind oder weniger Arme, weil sie im Selbstverständnis eines privaten Einkaufszentrums keinen Platz haben. Für gesellschaftliche Transformationsbemühungen ist der öffentliche Raum ein Fenster, das Sichtbarkeit verleiht und damit die kollektive Identität beeinflusst. So werden sowohl öffentlichkeitswirksame Protestaktion als auch alltägliche Aktivitäten zu einem verbindenden Glied zwischen unterschiedlichen Gruppen und normalisieren das vermeintlich “Andere”.  

Demonstrationszug in einer Stadt in Brasilien
Demonstrationszug auf der Straße. Brasilien, 2014. © Misereor/Alexander Riesen

Beispiele von Misereor-Partnerorganisationen aus der Praxis 

Wie die Verknüpfung zwischen Armutsbekämpfung und der Gestaltung des öffentlichen Raums in der Praxis aussieht, zeigen Misereor-Partnerorganisationen weltweit. Sie organisieren zum Beispiel Gemeinschaftsküchen, in lateinamerikanischen Ländern ollas comunes genannt, und lokale Lebensmittelmärkte. Diese stärken nicht nur die regionale Landwirtschaft, sondern auch die sozialen Netzwerke und den Zugang zu guter Ernährung – und damit die Widerstandsfähigkeit der armen Stadtbevölkerung gegenüber Krisen. Andere Partnerorganisationen betreiben gemeinschaftliche Stadtgärten oder unterstützen Familien dabei, an Straßenecken Obst und Gemüse anzubauen. Oft bringen zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Interessen in politische Prozesse ein und beteiligen sich an der Gestaltung von Grünflächen. Diese tragen zur körperlichen und psychischen Gesundheit bei und wirken Hitzeinseln sowie den Folgen von Starkregen entgegen.  

Frauen bereiten Lebensmittel in einer Stadtküche zu
Frauen verarbeiten Lebensmittel und kochen in der Olla Comun. Los Alamos in San Juan de Lurigancho. Peru, 2023. © Misereor/Achim Pohl

Ausgeschlossene Gemeinschaften beleben den öffentlichen Raum, indem sie Musik- und Kunstfestivals organisieren und so die städtische Vielfalt im gesellschaftlichen Bewusstsein verankern, oder indem sie durch niedrigschwellige Kultur- und Bildungsangebote in Gemeinschaftshäusern den nachbarschaftlichen Zusammenhalt stärken.  

Bündnisse setzen sich für den gerechten Zugang zu Mobilität ein: Integrative und inklusive Fußgängerwege ermöglichen es jungen wie alten Menschen, ihre Ziele zu Fuß zu erreichen und somit ihre Rechte wahrzunehmen – sei das Recht eines Jeden auf Bildung, auf eine gesunde Umwelt oder auf politische und soziale Teilhabe oder das das Recht eines jeden Kindes auf Ruhe, Freizeit und Spiel. 

All diese Beispiele haben eines gemeinsam: Benachteiligte Gruppen werden durch die gemeinschaftliche Gestaltung des öffentlichen Raums zu Protagonist*innen, die ihre Lebensrealitäten verbessern und als Akteure des Wandels wahrgenommen werden. Sie setzen sich dafür ein, dass der Zugang zu öffentlichem Raum und die damit einhergehende gesellschaftliche Teilhabe von einem Privileg Weniger zum Recht für Alle wird – ein Sprungbrett, um den nachhaltigen Entwicklungszielen näher zu kommen.

Streetworker spielen mit Kindern auf der Straße
Auf der Straße. Streetworker: Jungen spielen ein Brettspiel (Dame) auf einem Schachbrett in Anwesenheit einer Sozialarbeiterin von Grupo Ruas e Pracas. Brasilien, 2017. © Misereor/Eduardo Soteras Jalil

Dieser Blogbeitrag wurde von Kai Klause, Referent für städtische Entwicklung bei Misereor, und Sofia Bonilla (studierte Architektin und Stadtplanerin. Im Rahmen eines Praktikums hat sie ihre Kenntnisse der Stadtsoziologie vertieft und Misereor in den Themenbereichen Recht auf Stadt und Öffentlicher Raum unterstützt) geschrieben.


Menschenwürdig leben in der Stadt

Bagger in einer informellen Siedlung

Jede*r dritte Stadtbewohner*in des globalen Südens lebt unter menschenunwürdigen Bedingungen in informellen Siedlungen, die auch abwertend als „Slums“ bezeichnet werden. Erfahren Sie mehr über den Einsatz für lebenswerte Städte weltweit unter misereor.de/stadt > 

Geschrieben von: und

Kai Klause, Experte für städtische Transformation bei Misereor

Kai Klause ist Experte für Städtische Transformation bei Misereor.

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Avatar-Foto

    Solange die Arbeitssklaven für Ihre Herren für einen Mindestlohn arbeiten, solange wird sich hier auch nichts ändern. Der Staat wäre gefordert. Leider ist dieser größtenteils auch korrupt und arbeitet für die sogenannte Elite. Ein neues Menschenwürdiges System muss her.

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