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Kindersoldaten: „Sie werden direkt auf die Schlachtfelder geschickt“

Seit Jahren terrorisiert die islamistische Miliz Boko Haram die Bevölkerung in Tschad, Nigeria und Kamerun. Im Einsatz sind dabei auch immer wieder Kindersoldaten. „Die Jugendlichen werden mit Geld gelockt, bekommen auch Motorräder geschenkt “, berichtet Vincent Hendrickx. Hendrickx ist MISEREOR-Verbindungsstellenleiter im Tschad und kennt die krisengeschüttelte Region gut. Gerade ist er von einem Projektbesuch aus Nord-Kamerun zurück. Ein Gespräch über die Gefahr der Perspektivlosigkeit bei Jugendlichen und was interreligiöser Dialog für den Frieden bewirken kann.hendrickx

Sie waren bis vor kurzem in Kamerun unterwegs. Wie präsent ist das Thema Boko Haram dort?
Vincent Hendrickx: Das Thema ist sehr präsent. Ich selber war in Maroua, in der Region Nord-Kamerun, wo Boko Haram bislang am präsentesten war und viele Anschläge in den letzten zwei Jahren verübt hat. Die Leute in Maroua trauen sich kaum, den vollständigen Namen von Boko Haram auszusprechen, so verunsichert sind sie. Sie sagen stattdessen zum Beispiel BH oder „diese Leute“.

Wie gestaltet sich das Leben in Maroua?
Vincent Hendrickx: In den vergangenen Monaten ist Maroua von Anschlägen verschont geblieben. Das heißt, trotz vieler Polizeikontrollen und einer Ausgangssperre ab 20 Uhr führen die Menschen hier derzeit ein halbwegs normales Leben. Allerdings schlafen die meisten Bewohner der Dörfer an der Grenze zu Kamerun nachts nicht in ihren Häusern, sondern in den angrenzenden Bergen. Sie haben Angst vor Angriffen. Tagsüber gehen sie dann zurück in die Dörfer, beispielsweise um ihre Felder zu bestellen. Doch auch das ist problematisch. Die Leute haben Sorge, dass sich Kämpfer in den Getreide- oder Hirsefeldern verstecken. Sie sind deshalb weniger effizient, bauen weniger an. Die Wirtschaftskraft insgesamt geht zurück. Die Leute können ihren Lebensstandard nicht mehr halten.

Im Flüchtlingslager Minawa in Nordkamerun herrschen schwierige Bedingungen. Das Trinkwasser ist knapp, die Schulen sind überfüllt. Die Flüchtlinge kommen aus dem Nachbarland Nigeria, 70 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder.

Im Flüchtlingslager Minawa in Nordkamerun herrschen schwierige Bedingungen. Das Trinkwasser ist knapp, die Schulen sind überfüllt. Die Flüchtlinge kommen aus dem Nachbarland Nigeria, 70 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder.

Welche Rolle spielt die Armee? Ist sie der Grund, weshalb es ruhiger geworden ist?
Vincent Hendrickx: Die kamerunische Armee ist seit 2014 an der Grenze zu Nigeria stationiert. Die ruhige Lage in Maroua ist eher eine Momentaufnahme. Boko Haram ist durch die Angriffe der tschadischen Armee sehr geschwächt, aber noch immer gibt es Anschläge. Allein letzte Woche gab es zwei Anschläge auf Märkte in der Umgebung von Maroua, bei denen viele Menschen starben. Boko Haram verübt Bombenangriffe auf die Zivilgesellschaft, weil sie momentan zu schwach ist, um Frontalangriffe auf die Armeen durchzuführen.

Was wissen Sie über den Einsatz von Kindersoldaten bei Boko Haram?
Vincent Hendrickx: Ich hatte in der letzten Zeit viele Gespräche mit Priestern, die mir berichtet haben, dass auch aktuell noch viele Kinder und Jugendliche bei Boko Haram sind. Sie sind in den vergangenen Monaten direkt auf die Schlachtfelder geschickt worden. Die meisten, ohne für das Kämpfen ausgebildet zu sein. Sie haben deshalb gegen trainierte Soldaten keine Chance. Andersherum ist es natürlich auch für die Soldaten der kamerunischen Armee psychologisch kritisch, auf Kinder und Jugendliche schießen zu müssen. Vor allem Straßenkinder sind perfekte Zielobjekte für Boko Haram, um neue Soldaten zu rekrutieren.

Werden die Kinder und Jugendlichen zwangsrekrutiert, zum Beispiel durch Kidnapping?
Vincent Hendrickx: Nein, das ist eher die Ausnahme als die Regel. Meistens werden sie eher mit Geld gelockt, bekommen Motorräder geschenkt. Das passiert weniger in den Städten, sondern mehr in den Grenzregionen zu Nigeria. Die Situation ist vielerorts doch wie für Boko Haram gemacht.DSC00844

Inwiefern?
Vincent Hendrickx: In vielen Ländern, in denen Boko Haram aktiv ist, sind die Menschen unzufrieden mit der wirtschaftlichen Lage. Für die Jugend gibt es keine Perspektive. Das macht sie oft zur leichten Beute. Die Aussicht auf ein Kalifat oder ein neues politisches System, das auf einer radikalisierten Interpretation des Korans aufbaut, kann jemanden ansprechen, der frustriert ist. Die Vorgehensweise von Boko Haram ist in vielen Ländern ähnlich, sei es in Kamerun oder Nigeria: Boko Haram verspricht den Kindern und Jugendlichen neue Perspektiven und Sicherheit. Im Tschad zum Beispiel demonstrieren die Schüler und Schülerinnen sogar gerade wegen ihrer Perspektivlosigkeit.

Wie aktiv ist Boko Haram im Tschad bei der Rekrutierung von Kindersoldaten?
Vincent Hendrickx: Offiziell werden dort weniger Kinder und Jugendliche angeworben. Die tschadische Regierung setzt sich, anders als andere Regierungen, rigoros und mit Nachdruck gegen die Radikalisierung der Einwohner ein. Dadurch hat es Boko Haram schwer, hier Boden zu gewinnen. Salafismus ist im Tschad generell nicht so sehr verbreitet. Im Gegensatz zu Kamerun, wo viele Imame Anhänger des Salafismus sind und diesen dann auch predigen. Sowieso wurde in Nordkamerun von offizieller Seite zu lange zugeguckt und zu spät eingegriffen. Es hat annähernd ein Jahr gedauert, bis die kamerunische Armee im Norden eingriff. Diese Zeit hat Boko Haram genutzt, um Leute zu entführen und neue Soldaten zu rekrutieren – eben auch viele Kinder und Jugendliche. Man kann das auch als Akt der Rache gegen die politischen Eliten ansehen, weil diese früher teilweise selbst mit Boko Haram kooperiert haben. Diese Kooperation ist nun beendet worden, weil die politischen Eliten erkannten, welch gefährliches Potential Boko Haram sozial und wirtschaftlich hat. Jetzt sind sie zu Zielscheiben geworden.

Wie ist denn die Situation in den Flüchtlingslagern? Versucht Boko Haram auch hier, neue Soldaten zu rekrutieren?
Vincent Hendrickx: Die Situation ist schwierig im Moment. In der Provinz Extrême-Nord gibt es ein Flüchtlingslager zwischen Mokolo und Maroua, dort leben aktuell 54.000 Flüchtlinge. Die Flüchtlinge sind ja Nigerianer, die aus Sicht vieler Kameruner das „Problem“ Boko Haram mit nach Kamerun gebracht haben. Das Konfliktpotential in der Grenzregion ist sehr hoch, das ist ein großes Problem. Aber die Lager werden von der Polizei bewacht. Es ist deshalb schwierig für Boko Haram, hier neue Rekruten anzuwerben. Doch gibt es auch tausende nigerianische Flüchtlinge, die in den grenznahen Dörfern in Kamerun untergekommen sind und unter anderem von Misereor Unterstützung bekommen. Viele Frauen und Kinder leben in diesen Dörfern. Vielerorts leistet Misereor Nothilfe.

Tausende nigerianische Flüchtlinge haben Schutz in den grenznahen Dörfern in Kamerun gefunden. Sie bekommen von MISEREOR Unterstützung. Das Konfliktpotential in der Region ist hoch. Die Menschen sind unzufrieden mit der wirtschaftlichen Situation, die Jugendlichen haben keine Zukunftsperspektive. Das macht sie anfällig für die Rekrutierung durch Boko Haram.

Tausende nigerianische Flüchtlinge haben Schutz in den grenznahen Dörfern in Kamerun gefunden. Sie bekommen von MISEREOR Unterstützung. Das Konfliktpotential in der Region ist hoch. Die Menschen sind unzufrieden mit der wirtschaftlichen Situation, die Jugendlichen haben keine Zukunftsperspektive. Das macht sie anfällig für die Rekrutierung durch Boko Haram.

Was kann man tun, um zu verhindern, dass sich Kinder und Jugendliche Boko Haram anschließen?
Vincent Hendrickx: Ich habe viele Projektpartner besucht. Die machen eine gute Arbeit vor Ort. So gibt es zum Beispiel Plakatkampagnen, die an den Dialog zwischen Muslimen und Christen appellieren. Der Dialog zwischen den Religionen ist sehr wichtig, um eine Radikalisierung zu verhindern. Außerdem unterstützt MISEREOR in Kamerun die offizielle interreligiöse Organisation ACADIR (Association Camerounaise pour le Dialogue Interreligeux) die in christlichen, muslimischen und protestantischen Schulen tätig ist und Aufklärungsarbeit leistet. Auch arbeitet ACADIR als Schnittstelle von verschiedenen Jugendorganisationen, damit ein Netzwerk entstehen und Hilfe effektiver geleistet werden kann. Dabei ist egal, welcher Religion diese Jugendgruppen angehören. ACADIR will erreichen, dass Gruppen unterschiedlicher Konfessionen zusammenarbeiten, um einen interreligiösen Dialog anzustoßen. Jede Religion will doch den Frieden. In jeder Religion gibt es Schätze für den Frieden.

Welche Schätze sind das?
Vincent Hendrickx: Der Koran postuliert zum Beispiel: „Keinen Zwang was Religionen betrifft“ (Sour.2,v.256). Es gilt also die Religionsfreiheit. Nach islamischem Verständnis sollte durchaus auch ein interreligiöser Dialog stattfinden. Auch in der Bibel gibt es viele Stellen, die das Aufeinander-Zugehen betonen. Denken Sie nur an den barmherzigen Samariter, der sich um einen Fremden kümmert. An vielen Stellen im Evangelium tritt Jesus in Dialog mit „Fremden“, mit Samaritern und Aussätzigen, was unüblich war.

Was wird getan, um Jugendlichen Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen?
Vincent Hendrickx: Die Partnerorganisationen in Nord-Kamerun unterstützen Kinder und Jugendliche, dass sie zur Schule gehen, eine Arbeit finden und auf eigenen Beinen stehen können. Es gibt zum Beispiel Computerkurse, Nähkurse oder Tischlerkurse. Außerdem eine landwirtschaftliche Ausbildung.

Wie sehen Sie die Entwicklung? Geht es in eine positive Richtung oder verschärft sich die Situation weiter?
Vincent Hendrickx: Es ist ruhiger als früher durch den Einsatz der tschadischen Armee. Boko Haram ist geschwächt worden. Aber man muss auch berücksichtigen, dass dieser Konflikt kein rein regionaler Konflikt mehr ist, sondern Teil eines internationalen Konfliktes. Boko Haram ist bereits eine Allianz mit dem IS in Syrien und im Irak eingegangen und nennt sich selbst seit April 2015 „Islamischer Staat in West Afrika“ (ISWAP). Boko Haram ist Teilproblem eines weltweiten Konfliktes geworden. Was wir befürchten, ist eine intensive Kooperation von Boko Haram mit dem IS in Libyen. Das sind aber nach heutigem Stand nur Befürchtungen. Besiegt werden kann Boko Haram aber nicht nur militärisch, ein Dialog zwischen den einzelnen Parteien ist erforderlich. Auch unter den Kindern, den Jugendlichen, den Flüchtlingen. Wichtig ist, dass die Wurzel der Krise angegangen wird. Die wirtschaftliche und politische Situation muss verbessert werden. Hier muss vor allem die Politik mehr tun als bisher. Kinder und Jugendliche müssen wieder eine Perspektive erhalten. Es darf keine verlorene Generation heranwachsen. Was mir Hoffnung macht ist, dass zumindest im Tschad und in Kamerun bei vielen Menschen ein Sinneswandel stattgefunden hat. Viele Familien haben verstanden, dass Boko Haram starke negative Konsequenzen in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht hat.


MISEREOR vor Ort

MISEREOR fördert in Nordkamerun seit mehr als 30 Jahren langfristige Entwicklungsprojekte in den Bereichen Wasserversorgung, nachhaltige Landwirtschaft, Frauenförderung, Bildung und gewaltfreie Konfliktbearbeitung. Projektpartner sind Caritas Maroua, Caritas Garoua und Caritas Yagoua. Seit Beginn der Auseinandersetzungen durch Boko Haram fördert MISEREOR auch Initiativen, die Vertriebene aus Kamerun und Nordnigeria betreuen und bei der Wiedereingliederung unterstützen. Es handelt sich hier um Hilfe zur Selbsthilfe und Wiederaufbauarbeit.

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Nina Brodbeck arbeitet bei Misereor in der Abteilung Kommunikation.

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