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Freudentränen: Warum Venezuela den Sieg der Opposition feiert

Nach Jahren der Krise in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verweist das Volk den sogenannten „bolivarianischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auf die Ränge. Mit dem Oppositionsbündnis MUD (Mesa de la Unidad Democrática) stimmte es bei den Parlamentswahlen am 6. Dezember  für eine Neuordnung des Landes – wenn auch Präsident Maduro weiterhin im Amt bleibt.

Nach der lange hinausgezögerten Verkündung der ersten offiziellen Wahlergebnisse ergießt sich ein Strom von Venezolaner(inne)n auf die Straße, um Freudentränen zu vergießen. Wie nach dem Sturz einer Diktatur, wie Kinder unterm Weihnachtsbaum in Vorfreude auf die nahenden Geschenke.

Die Menschen sind wählen gegangen und haben gewonnen

Die Hoffnung ist groß, dass sich nun Dinge ändern könnten. Die Angst, die weite Teile der venezolanischen Bevölkerung bisher beherrscht hat – die Angst vor einem Regime, das oppositionelle Stimmen unterdrückt und kriminalisiert – wurde endlich überwunden.  Die Menschen sind wählen gegangen und haben gewonnen. Es war kein Sieg der Politiker der Opposition, obwohl diese einen Gutteil an Mut und Risikobereitschaft bewiesen haben. Es war ein Sieg des Volkes. Und das fordert nun in Presse und sozialen Medien einen bewussten und verantwortungsvollen Umgang der Politik mit diesem Sieg.

Welche  Chancen hat das neue Parlament?

Es wird schwierig für ein Parlament, in dem die Opposition zwar eine Zwei-Drittel-Mehrheit besitzt, dessen Einfluss aber durch die Verfassung begrenzt ist.  Und das einer Regierung gegenüber steht, die sich über Jahre daran gewöhnt hat, nach Belieben, autoritär, überheblich zu regieren. Eine Regierung,  von der nach wie vor viele der Lösungen abhängen, die sich das Volk nun von der neuen Legislative erhofft.

Hoffnung auf ein Leben in Freiheit

Was sind die Hoffnungen, die man nun in den Straßen des Landes ständig und inständig mit der Luft einatmen kann, und die eine so starke Stimme gegen die Regierung erhoben haben? Sie sind sehr einfach und kurz zusammenzufassen: es ist die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit. Genau das, was das politische Erbe des 2013 verstorbenen Präsidenten Chávez nie zugelassen und in einem Berg von Schmerz und Unterdrückung versenkt hat. Nun scheint der Schmerz zu einem langsamen Ende zukommen.

Erstens: Leben.

Leben ist nicht wenig in einem Land mit mehr als 82 Morden pro 100.000 Einwohner (Deutschland im Vergleich: 0,8 Morde), die meisten durch Kriminalität verursacht. 25.000 Tote im Jahr, 90% der Taten ungesühnt.
Leben ist nicht wenig in einem Land, wo Menschen unter einer Inflation von ca. 220% allein in diesem Jahr leiden. In dem insgesamt 65% der Grundnahrungsmittel, Medikamente, Konsumgüter fast das ganze Jahr hindurch in den Regalen fehlen.

Zweitens: in Freiheit.

Der absolute Mangel an öffentlicher Sicherheit hat Venezuela zu einem Zwangsgefängnis gemacht.
Das Missverhältnis zwischen Einkommen und Kaufkraft schränkt fast alle Familien in ihren Entscheidungen über ihr Essen, ihre Kleidung, ihre Freizeit ein. Häufig müssen wir in langen Schlangen vor Supermärkten darauf hoffen, etwas von den subventionierten Grundnahrungsmitteln abzubekommen. Stundenlange Wartezeiten, anschließend die Markierung unserer Hände mit unauswaschbarer Tinte als Beweis dafür, dass wir eingekauft haben.

Im Schraubstock der Regierung

Objektives Wissen über die Wirklichkeit in Venezuela heute ist rar. Staatliche Medien senden linienkonforme Beiträge, private Medien sind im Schraubstock der Regierung. Und genauso wie das Recht auf Information verweigert wird, gibt es auch andere Angriffe auf die Freiheit der Bürger/innen:

Es gibt kaum eine Möglichkeit mehr, dem Missbrauch, der Diffamierung, den Verleumdungen durch die Machthaber aufrecht entgegenzutreten. Der Rechtsstaat arbeitet nicht mehr für jene, die laut anders denken als die Regierung. Soziale Organisation jenseits der chavistischen Gruppen ist schwierig bis unmöglich (denn Mitglieder von anderen Organisationen müssen Angst haben, ihre staatliche Unterstützung gestrichen zu bekommen). Und der Präsident nutzt seinen Ermessensspielraum, um Verfassung und Gesetze nach Belieben zu interpretieren. Bisher wurde er dabei unterstützt vom Parlament, vom Obersten Gerichtshof und der Staatsanwaltschaft; gegen die Durchsetzung des Rechtsstaats für Oppositionelle und Schwache.
Und obendrauf noch eine Armee, die zu Regierung und Regierungspartei hält, der bewaffnete Arm der chavistischen „Revolution“…

Mandat Neuanfang

Die Tränen des 6. Dezember sind nicht merkwürdig, genauso wenig wie die Jubelrufe in den Straßen oder die überzogenen Hoffnungen in ein Parlament, das im Januar sein Amt antritt. Dennoch können und werden sich diese Hoffnungen in eine Bedrohung für die wandeln, die sie erfüllen sollen.

Aber es ist eine knappe und von Zersplitterung bedrohte Mehrheit, die ein sehr klares Mandat hat: für immer diese 17 Jahre andauernde Nacht hinter uns bringen, die mit dem Morgen dieses 7. Dezember hoffentlich aufzuhören begann.


 

Zum Autor: Abilio López Pérez berät seit vielen Jahren die Misereor-Partnerorganisationen in Venezuela.

Übersetzung: Annette Roensch

Geschrieben von:

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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