Nach drei Jahren IS-Herrschaft sind nicht nur Städte und Dörfer zerstört. Auch die Beziehungen zwischen den Menschen und Religionen liegen in Trümmern. Teil 2 des Irak-Blogs von MISEREOR-Geschäftsführer Martin Bröckelmann-Simon.
Natürlich bin ich immer wieder allein schon durch das schiere Ausmaß fassungslos. Ich gehe durch die Ruinen und Trümmer von Baashiqa, einer Kleinstadt 15 km vor Mossul. Hier lebten Jesiden, Christen und Muslime miteinander.
Welche Schäden sind schwerer zu beheben?
Gewiss lebten die 40.000 Menschen vor der brutalen Vertreibung und dem Terror des IS nicht spannungsfrei miteinander. Aber das Leben war immerhin mehr oder weniger friedlich. Wie wird es nun werden, wo die ersten Familien allmählich ihre zerstörten Häuser wieder in Besitz nehmen und herrichten? Nicht nur dabei werden sie Hilfe brauchen. Ihre materiellen Verluste sind enorm. Drei Jahre Flucht haben allen verbleibenden Besitz aufgezehrt. Aber was ist mit dem Vertrauensverlust untereinander? Wird es funktionieren, sich jetzt nicht über die Rückkehrhilfen zu zerstreiten? Wird es gelingen, sich jetzt nicht von „den Anderen“ abzugrenzen oder diese gar pauschal abzulehnen?
Warum nur umsichtige Hilfe hilft
Materielle Hilfe von außen ist jetzt sicher nötig. Die beste Hilfe für Vertriebene ist, sie bei der ersehnten Heimkehr zu unterstützen. Aber sie darf keinesfalls die nötige Einigkeit gefährden – weder innerhalb der Konfessionen, noch zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen. Insofern sind Behutsamkeit und Umsicht geboten. Und auch der Staat trägt hierfür Verantwortung – sei es die irakische Zentralregierung in Bagdad, sei es die kurdische Regionalregierung in Erbil.
Wie wichtig die Zivilgesellschaft ist
Eine geeinte und aktive Zivilgesellschaft kann und muss eine wichtige Kontrollfunktion ausüben. Das gilt gerade dann, wenn internationale Gelder, wie beim Wiederaufbau, auch in staatliche Kassen fließen. Die Zivilgesellschaft muss zur Tranzparenz beitragen und so die Korruptionsgefahr begrenzen. Und sie kann daran mitwirken, dass die wirklich Bedürftigen erreicht werden. Das weiß ich aus vielen Projekterfahrungen. Gerade angesichts der ebenso offenen wie umstrittenen Frage, wer eigentlich hier im Nordosten des Iraks zuständig ist – Bagdad oder Erbil? – ist dies so bedeutsam.
Wie vom Nebeinander zum Miteinander?
Der materielle Wiederaufbau beginnt. Das kann ich hier in Baashiqa sehen. Oday Jergis bittet meine Begleiter der MISEREOR-Partnerorganisation CAPNI und mich in sein gerade wieder bewohnbares Haus zum Tee. Und die freudigen Gesichter von ihm und seiner Familie zeigen deutlich, was das für die Menschen hier bedeutet. Darüber bin ich froh. Aber was bedeutet es, wenn ich ihn nach seinen sunnitischen Nachbarn frage und er antwortet: „Kein Problem, wir grüßen uns, aber gehen uns ansonsten aus dem Weg“? Und natürlich leistet der orthodoxe Pfarrer der St. Shooni-Kirche mit seinem Pfarrkomitee Beeindruckendes in seiner Hilfe für seine Gemeinde. Aber warum ist es (noch?) so schwierig, ein gemeinsames Wiederaufbau-Komitee aller Religionen in Baashiqua zu organisieren?
Der Wiederaufbau der Infrastruktur wird immense Summen kosten. Trotzdem wird der Wiederaufbau der zwischenmenschlichen Beziehungen vermutlich das länger bleibende Problem sein. Umso mehr Aufmerksamkeit verdient er.
Weitere Artikel aus dem aktuellen Irak-Blog
Irak: Was kommt nach dem Hass des IS?
Chancen auf Zuversicht?
Sichere Heimkehr ?
Erfahren Sie mehr über unsere Flüchtlingsprojekte im Nahen Osten
Anlässlich seiner Rückkehr aus dem Irak findet am 11.09. um 11 Uhr eine Pressekonferenz bei MISEREOR in Aachen mit Dr. Martin Bröckelmann-Simon statt.
Kontakt:
Rebecca Struck
Rebecca.Struck@misereor.de
Tel. 0241 442 110 / 0170 481 22 11