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Brasilien: Ein Horrorszenario für die Demokratie

Die Bestätigung des Berufungsgerichts im brasilianischen Porto Alegre über die Verurteilung von Ex-Präsident Lula Ignácio da Silva zu einer langjährigen Freiheitsstrafe wegen Korruption versetzt brasilianische Sozialbewegungen in tiefes Entsetzen.

Proteste zur „Verteidigung der nationalen Souveränität“ in Rio de Janeiro, Oktober 2017. Foto: Joka Madruga/MAB Nacional

So richtet sich der Urteilspruch nicht gegen irgendwen, sondern gegen den Mann, den Barack Obama einst als beliebtesten Politiker des Planeten charakterisierte. Gegen den Helden des einfachen Volkes, den Gewerkschafter, der als Präsident durch eine Vielzahl von Sozialprogrammen Millionen von Menschen aus den Fängen der Armut befreite. Für Darleni Braga von der MISEREOR-Partnerorganisation CPT (Landpastoral) kommt die Entscheidung des Berufungsgerichts keineswegs überraschend. Sie sieht in ihr ein Indiz dafür, dass sich die brasilianische Justiz mit der aktuellen Regierung zusammengeschlossen hat, um den konservativen Kräften bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2018 die Stange zu halten.

„Lula ist Opfer der brasilianischen Rechten, die es nie verkraftet hat, dass es ein einfacher, aus dem Nordosten stammender, armer Junge war, der es geschafft hat, Brasilien von der Landkarte des Hungers zu streichen und in der Weltpolitik einen Namen zu verschaffen“ erklärt die aus dem Bundesstaat Acre stammende Menschenrechtlerin.

Luiz Dalla Costa, Leiter der Bewegung der Betroffenen von Staudammprojekten (MAB) und Projektpartner von MISEREOR, kommt zu einem ähnlichen Schluss. Er sieht in der Verurteilung Lulas  eine Attacke auf die brasilianische Demokratie: „Den Gerichtsprozessen gegen Lula fehlten von Anfang bis zum Ende eindeutige Beweise und der Urteilspruch unterlag keinen Fakten, sondern der Interpretationswillkür von Richtern“.

Auch die brasilianische Bischofskonferenz sowie der ökumenische Kirchenrat zeigen sich besorgt; sie schaffen Räume für Debatten und Gespräche, jüngst am nationalen Treffen der Christlichen Basisgemeinschaften (CEBs) in Londrina, wo der Urteilsspruch Lulas als Zäsur in der Geschichte der größten Demokratie Südamerikas gedeutet wird. Viele Menschen am Rand der Gesellschaft, die sich mit Lula identifizieren, verstehen seine Verurteilung als Aburteilung ihrer selbst.

Luiz Inácio Lula da Silva. Foto: Joka Madruga/MAB Nacional

Fakt ist, dass die brasilianische Justiz mit zweierlei Maß misst. Während Lula bei äußerst dünner Beweisführung eine langjährige Gefängnisstrafe droht, bleiben andere aus dem Regierungslager stammende, einflussreiche Politiker trotz klarer Beweislage vom brasilianischen Gerichtshof verschont. Nicht ohne Argument schreibt das Online-Magazin „Brasil 247“ in seiner Ausgabe vom 26. Januar 2018: „Ein Land, in dem Lula verurteilt wird, Michel Temer aber Präsident und Aecio Neves Senator sind, ist eine Farce“. In den Fällen Temer und Neves konnten Millionen von Menschen deren Verstrickungen in den brasilianischen Korruptionsapparat per Audiobeweis in allen Fernsehprogrammen des Landes mitverfolgen.

Für die brasilianische Arbeiterpartei PT und viele Menschen an der Basis spitzt sich das Horrorszenario für die brasilianische Demokratie weiter zu. Da war das äußerst fragwürde Impeachment-Verfahren gegen Dilma Rousseff vor eineinhalb Jahren, für das der Begriff „Parlamentarischer Putsch“ noch am ehesten die damaligen Ereignisse beschreibt. Im Anschluss kam eine Temer-Regierung, welche, statt das Land aus der Wirtschaftskrise herauszuführen, ihre Aktivitäten darauf konzentriert hat, die  Sozialprogramme für die ärmeren Bevölkerungsschichten wieder abzuschaffen und der Agro-Lobby sowie dem Bergbau den Weg in den Amazonas zu ebnen. Und jetzt die Verurteilung Lulas, in der viele keinen fairen Prozess, sondern eine politische Inszenierung sehen. Und bei der die Rechte ihren Einfluss auf die Justiz nutzt, um die Kandidatur Lulas für die Präsidentschaftswahlen mit aller Macht zu verhindern. Der 3:0-Beschluss des Berufungsgerichtes in Porto Alegre dürfte die Polarisierung zwischen Reich und Arm, zwischen Schwarz und Weiß, Rechts und Links weiter anheizen. Eine Verhaftung von Lula vor dem 15. August, Frist-Tag zur Kandidatur, ist offen. Um aber eine reelle Chance zu haben, als Präsidentschaftskandidat zugelassen zu werden, ist er auf das Eingreifen des Obersten Gerichtshofes angewiesen. Um das zu bewirken, muss die einstige Galionsfigur der Linken einen guten Plan stricken und Massen seiner Anhängerschaft dazu bewegen, für ihn Brasiliens Straßen zu erobern. Inwieweit ihm das gelingt – und weitere Proteste zum erhofften Erfolg führen – bleibt abzuwarten. Es ist nicht damit zu rechnen, dass Lula den gegen seine Person gerichteten Kampf so schnell aufgibt. Stammt doch von ihm der Satz: „Wenn sie mich verhaften, werde ich zum Helden, wenn sie mich ermorden, werde ich zum Märtyrer und wenn sie mich auf freien Fuß lassen, werde ich erneut Präsident.“

Fazit ist: Brasilien hat seit den Juni-Aufständen 2013 über die Fussballweltmeisterschaft 2014, die Olympiade 2016 und mit der Amtsenthebung Dilmas sowie der derzeitigen Temer-Regierung eher Stolper-  als Meilensteine vorzuweisen. Dafür blieben wichtige Themen wie Bildung, Gesundheit und die Nachhaltigkeit in Umwelt und Sozialwesen auf der Strecke. Es ist zu befürchten, dass sich die Debatten während der Wahlkampagne auf die „Frage Lula“ und ein Strandapartment reduzieren.

Über die Autoren: Stefan Kramer ist Leiter der MISEREOR Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilia, Regina Reinart arbeitet als Referentin für Brasilien bei MISEREOR.

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Stefan Kramer leitet die MISEREOR Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilia/Brasilien.

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