Da mein Flug zwölf Stunden Verspätung hat, steige ich erst um 17 Uhr in Buenos Aires in das Flugzeug nach Rio de Janeiro – genau zu dem Zeitpunkt, an dem in den meisten Bundesstaaten Brasiliens die Wahllokale schließen.
Die Demokraten in Brasilien haben am 28. Oktober drei turbulente Wochen hinter sich: Einen tiefen Schock am 7. Oktober, als der Rechtsextreme Jair Bolsonaro im ersten Wahlgang mit 46 Prozent weit mehr Stimmen erhält als erwartet. Die Überwindung des Schocks, als sich ganz langsam eine demokratische, linke bis sozialdemokratisch-liberale Koalition zur Unterstützung von Fernando Haddad, dem Kandidaten der Arbeiterpartei PT, bildet. Und die hektischen zehn Tage vor dem zweiten Wahlgang, als eine Kundgebung auf die nächste folgt, täglich Zehntausende „EleNão“ („Er nicht“) auf den Straßen skandieren und fieberhaft die sozialen Medien mit #haddadsim und Informationen gegen die Hass-Kampagnen der Rechten bespielen.
„Bolsonaro, Mythos“
Als mein Flugzeug um 20:15 Uhr Rio de Janeiro erreicht, ruft ein Mann in das Halbdunkel des Landeanflugs lautstark „Bolsonaro, mito!“ („Bolsonaro, Mythos“ – der Kampfruf der Bolsonaro-Anhänger). Glücklicherweise bleibt es totenstill, mindestens ein Drittel der Reisenden sind ohnehin Argentinier. Nach der Landung hektisches Hochfahren der Handys, um die Wahlergebnisse zu sehen. „Bolsonaro!“ ruft wieder einer. „Brasil!“ antwortet ein anderer. Damit ist klar: Es hat nicht gereicht. Die rasante Aufholjagd von Fernando Haddad, der am 7. Oktober – dank der Ankündigung seiner Kandidatur zum letztmöglichen Zeitpunkt durch die PT – bei weiten Wählerschichten weitgehend unbekannt war und nur 29 Prozent der Stimmen erhielt, hätte mindestens eine weitere Woche gebraucht, um die ersehnte Umkehrung der Abstimmungsergebnisse herbeizuführen. Und so ist das Ergebnis des zweiten Wahlgangs: 55 Prozent der gültigen Stimmen gehen an den rechtsextremen Bolsonaro, 45 Prozent an Haddad. Elf Millionen, das sind 9,5 Prozent der abgegebenen Stimmen, sind ungültig und 31 Millionen Wähler, das entspricht rund 21 Prozent, bleiben den Urnen ganz fern.
Beim Ausstieg sagt der Mann, der hinter mir steht, halblaut und mit tiefer Zufriedenheit: „A petralha vai dormir – die linken Banditen werden sich schlafen legen.“ Das ist bedrohlicher, als es klingt, denn Jair Bolsonaro hat im Wahlkampf verschiedenste Drohungen gegen seine politischen Gegner ausgestoßen: Haddad werde im Gefängnis landen, Lula dort verrotten, umfassende Säuberungen würden durchgeführt, die „linken Banditen“ (gemeint ist die PT) von Exekutionskommandos erschossen werden. Auf dem Flughafen dann nur verhaltener Jubel der Bolsonaro-Anhänger, verschwörerische Blicke, kurze, halblaute Gesänge, man grüßt sich. Am Gate zum Weiterflug nach Salvador de Bahia sitzt mir ein Mann mit dem Konterfei von Jair Bolsonaro auf dem T-Shirt gegenüber. Unter dem Gesicht ein Totenkopf. Zwei Sitze weiter kommentieren zwei bürgerliche Damen mittleren Alters die Nahrungsmittelhilfe für die Ärmsten der Armen: „Cesta básica, die sollen arbeiten gehen!“ Daneben versteinerte oder tiefbetrübte Gesichter. Die Gegner von Bolsonaro erkennt man heute am ehesten am , ein rotes T-shirt mit der 13 für die PT trägt hier niemand. Und auch wenn es am Flughafen ruhig bleibt – in Rio de Janeiro verbrüdern sich nicht nur tausende Menschen vor dem Wohnhaus von Jair Bolsonaro mit Militärpolizisten, auf der anderen Seite der Bucht, in Niteroi, lässt sich eine Militärparade von Bolsonaro-Anhängern feiern. Dies ist auch in Brasilien ein klarer Bruch der Verfassung.
Eine Hass-Demonstration
Als ich nach Mitternacht in Salvador de Bahia ankomme, sagt der Taxifahrer, es sei alles ruhig geblieben. Das ist nicht ganz richtig, wie sich später herausstellt. Zumindest in dem Ausgehviertel Rio Vermelho hat es einen Vorfall gegeben, bei dem eine junge Frau von einem Bolsonaro-Anhänger krankenhausreif geschlagen wurde, und die Militärpolizei – zumindest nach Einschätzung von Misereor-Projektpartnern – PT-Anhänger, die ihr zu Hilfe kamen, verhaftet hat und den Täter entkommen ließ. Die eigentliche Party der Bolsonaro-Anhänger fand allerdings in São Paulo statt. Lateinamerika Nachrichten-Redakteur Niklas Franzen schrieb dazu: „Ich komme gerade von der Avenida Paulista zurück. Das war keine Siegesfeier, das war eine Hass-Demonstration. Die Anhänger von Bolsonaro stießen offene Morddrohungen gegen die ‚Linksgerichteten‘ aus, priesen die Militärdiktatur und zeigten sogar den Hitlergruß. Der Faschismus ist da.“ Die gute Nachricht dieser Wahlnacht ist allerdings, dass die befürchteten Pogrome ausblieben – selbst The Intercept Brasil schrieb im Vorfeld des zweiten Wahlgangs über die Möglichkeit einer „Kristallnacht“.
Fest steht aber, dass der zukünftige Präsident Brasiliens keinen Zweifel daran gelassen hat, wer für ihn außerhalb des Schutzes durch die Verfassung und den Rechtsstaat steht. Außer den „linken Banditen“ hat er Gewerkschafter, Schwarze, Homosexuelle, Indigene und auch Frauen, die nicht nach dem traditionellen Frauenbild leben, immer wieder in seinen Reden „markiert“ und für die Verfolgung durch seine Anhänger freigegeben. Die Folge dieses Diskurses sei ein allgemeines Klima der Angst, das deutlich spürbar sei, betonen alle Misereor-Partner, mit denen ich nach der Wahl spreche. Eine in einer solchen Organisation tätige Rechtsanwältin berichtet: „Es gibt eine Zunahme von gewalttätigen Übergriffen auf den Teil der Bevölkerung, der ohnehin besonders verletzlich ist. Es gab während des Wahlkampfes eine Reihe von physischen und symbolischen Gewalttaten, bis hin zum Mord. Hier in Salvador de Bahia wurde ein schwarzer Capoeira-Meister ermordet, weil er sich als politischer Gegner von Bolsonaro zu erkennen gegeben hatte. Ich kenne viele Menschen, die bereits direkt oder indirekt bedroht werden. Zum Beispiel hat mir ein homosexueller Student erzählt, dass er sich von seinen Nachbarn anhören musste, dass Homosexuelle jetzt sterben werden. Die Wahl von Bolsonaro autorisiert einen Diskurs der Gewalt, der Repression, ja sogar der Auslöschung. Darüber hinaus werden für Nichtregierungsorganisationen die Spielräume kleiner, um Einfluss auf die öffentliche Politik zu nehmen, um zum Beispiel die Rechte der Landbevölkerung durchzusetzen.“
Angst vor dem Ausnahmezustand
Auch ein Repräsentant einer brasilianischen Entwicklungsorganisation, die von MISEREOR gefördert wird, spricht von einem Klima der Feindseligkeit: „Eine Nachbarin von uns hat erzählt, dass ihr Sohn sich aus eigener Initiative seine Dreadlocks abgeschnitten hat, weil das als Provokation verstanden und zu direkten Bedrohungen führen könnte. Er sagte zu seiner Mutter, dass er sich weiterhin als Teil der schwarzen Bewegung betrachtet, aber persönlich in diesem Moment abwarten wolle, wie sich die Sache entwickelt. Bolsonaro selbst hat nach der Wahl seinen Diskurs etwas abgeschwächt und gesagt, dass er die Verfassung respektieren werde. Ich rechne für die Zukunft mit immer neuen Ausnahmedekreten, die in der Summe zu einem Staat im Ausnahmezustand führen werden.“
Daher lautet das Motto der Stunde für die sozialen Bewegungen: „Resistencia“ – Widerstand. Bereits in dieser Woche haben in Rio de Janeiro und São Paulo Massendemonstrationen mit mehreren zehntausend Teilnehmenden stattgefunden, die ausgesprochen kämpferisch waren. Überall im Land werden Veranstaltungen zur „Verteidigung der Demokratie“ organisiert, in denen die Lage analysiert und Perspektiven entwickelt werden. Kampflos will die brasilianische Zivilgesellschaft die Errungenschaften der letzten Jahre nicht den Nachfahren der Militärdiktatur überlassen. Die Einigkeit der Demokraten in den letzten Tagen vor der Wahl könnte eine gute Grundlage für eine parteiübergreifende Koalition sein, auch wenn aus dem Parlament bereits wieder neue Verwerfungen bekannt werden.
In dieser Situation richtet eine der brasilianischen MISEREOR-Partnerinnen einen Appell an die internationalen Partner der brasilianischen Zivilgesellschaft: „Ich denke, es ist wichtig, dass unsere Partner in der Internationalen Kooperation beginnen, Brasilien unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es geht nicht nur darum, wie hoch das Durchschnittseinkommen in Brasilien ist, sondern es geht darum, die sozialen und ökologischen Menschenrechte wieder in den Blick zu nehmen, die in diesem Moment in großer Gefahr sind. Dies ist eine Situation, die absolut gegenläufig zu den Jahren des Erstarkens der Demokratie und der Fortschritte bei der Verwirklichung der Menschenrechte ist. Wir werden die Partnerschaft und die aufmerksame Beobachtung derjenigen außerhalb des Landes, die Brasilien am effektivsten unterstützen können, auf jeden Fall brauchen.“
Autorin: Claudia Fix