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Ein mutiges Nein! MISEREOR-Projektpartner gegen weibliche Beschneidung

Der 6. Februar ist der internationale Tag der Nulltoleranz gegenüber weiblicher Genitalverstümmelung. Ein Gespräch dazu mit Ellen Schmitt, MISEREOR-Fachreferentin für den Bereich Gesundheit und Mali-Länderreferent Raoul Bagopha.

Ellen Schmitt, MISEREOR-Fachreferentin für den Bereich Gesundheit und Mali-Länderreferent Raoul Bagopha: „Unsere Partnerorganisation TAGNE besteht mehrheitlich aus Opfern und ehemaligen Beschneiderinnen. Es sind Betroffene, die Nein sagen. Die Frauen wollen nicht, dass anderen widerfährt, was sie erlitten haben.“

Frau Schmitt, was braucht es, damit „weibliche Genitalverstümmelung“, im Englischen „Female Genital Mutilation (FGM) genannt, wirksam eingedämmt wird?
Schmitt: Zunächst ist es wichtig, die Ursachen zu kennen und entsprechend angepasste Maßnahmen zu finden. Was in Land A und in der Gesellschaft B gute Erfolge erzielt hat, muss nicht für ein anderes Land gelten. Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb FGM praktiziert wird, die bei den Maßnahmen mit zu bedenken sind. In vielen Gesellschaften ist weibliche Genitalverstümmelung seit Generationen Teil der Tradition. Hier muss man einen Kulturwandel bewirken. Wenn sich eine Familie entschließt, ihre Tochter nicht beschneiden zu lassen, kann das einen Ausschluss aus der Gemeinschaft zur Folge haben. Der soziale Druck darf nicht unterschätzt werden. Deshalb sollte bei Maßnahmen die gesamte Dorfgemeinschaft miteinbezogen werden. Vor allem auch die Beschneiderinnen. Sie haben einen bedeutenden sozialen Status in der Gesellschaft inne. Mit ihnen zu arbeiten, sie einzubeziehen, sind wichtige Aspekte der Projektarbeit in Afrika.

Zum heutigen UN-Tag der Nulltoleranz gegen weibliche Beschneidung startet in Ägypten eine neue Sensibilisierungs-Kampagne. Wie ist die Situation dort?
Schmitt: Das Beispiel Ägypten zeigt die Komplexität eindrücklich auf. Laut einer Studie sind in Ägypten im Durchschnitt 9 von 10 Frauen im Alter von 15-49 Jahren genitalverstümmelt. Dass die Prozentzahl bei den Jüngeren niedriger ist als bei den Älteren legt nahe, dass die Praxis langsam abnimmt, aber noch viel Information, Kommunikation und vor allem Bildungsarbeit zu dem Thema notwendig ist.

Was bedeutet das für die Projektarbeit?
Schmitt: Der Projektpartner, den MISEREOR in Ägypten unterstützt, leistet Arbeit auf der berühmten Graswurzelebene: Mädchen mit „FGM-Risiko“ werden identifiziert, Gemeinschaften aufgeklärt. Es werden Hausbesuche durchgeführt und Beratungen angeboten. Kindergartenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, aber auch Auszubildende der Krankenpflege und Studierende der Medizin werden für das Thema sensibilisiert. Denn ein großes Problem in Ägypten besteht darin, dass inzwischen ein großer Teil der Beschneidungen durch Ärztinnen und Ärzte und durch Pflegepersonal ausgeführt wird. Es besteht offenbar Grund zur Befürchtung, dass viele trotz des staatlichen Verbots der Praxis nicht von dieser zusätzlichen Einnahmequelle ablassen werden, wenn sie chronisch unterbezahlt sind. Und auch für Beschneiderinnen ist FGM eine Einnahmequelle. Es geht also darum, ihre soziale Stellung nicht zu gefährden und ihnen gleichzeitig eine andere Einkommensquelle zu verschaffen – und sei sie auch noch so klein. Weibliche Genitalverstümmelung hat also auch einen Armutsfaktor und muss deshalb nicht nur sozial, rechtlich, sondern auch ökonomisch angegangen werden.

Herr Bagopha, auch in Mali unterstützt MISEREOR Projektpartner, die sich gegen die weibliche Genitalverstümmelung einsetzen. Was steht bei deren Arbeit im Fokus?
Bagopha: Im Mittelpunkt unserer Förderarbeit stehen Prävention und Umgang mit Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung. Dafür ergreift unser Hauptpartner TAGNE vielfältige Maßnahmen: Aufklärung von Männern, Frauen, Jugendlichen und Kindern über die Gefahren von FGM, medizinische Versorgung sowie psychologische Beratung für Betroffene, wirtschaftliche Stärkung von Frauen, Mitwirkung an politischen Entscheidungen usw.

Gemeinsam gegen weibliche Genitalverstümmelung: Mitarbeiterinnen von MISEREOR-Projektpartner Tagne in Mali informieren über die Folgen von Beschneidung bei einer Informationsveranstaltung in einem Dorf in der Region um die Hauptstadt Bamako. Foto: Pons/ MISEREOR

Welche Erfolge gibt es?
Bagopha: Es gibt einige positive Veränderungen. Das Thema ist enttabuisiert. Es wird offen über weibliche Genitalverstümmelung und ihre problematischen Folgen debattiert. Die Zahl der Dörfer in der Gemeinde Kati, die sich gegen die weibliche Beschneidung aussprechen, steigt zunehmend. Der Kampf gegen FGM ist nicht allein den Frauen überlassen: Immer mehr Männer, politische Amtsträger und religiöse Würdenträger treten gegen das Phänomen der weiblichen Beschneidung ein. Viele Beschneiderinnen geben das ‚Handwerk des Beschneidens‘ auf.

Sie haben selbst den Projektpartner in Mali besucht. Was haben Ihnen die Frauen berichtet?
Bagopha: Unsere Partnerorganisation TAGNE besteht mehrheitlich aus Opfern und ehemaligen Beschneiderinnen. Es sind Betroffene, die Nein sagen. Die Frauen wollen nicht, dass anderen widerfährt, was sie erlitten haben. Von einer sehr starken und engagierten Beschneiderin in der Kommune Kati, die ihr ‚Handwerk des Beschneidens‘ freiwillig aufgegeben hat, habe ich gelernt, die Debatte über weibliche Genitalverstümmelung angemessen zu entmystifizieren und wirksam zu versachlichen. Diese ehemalige Beschneiderin, die in den Entscheidungsgremien unserer Partnerorganisation TAGNE sitzt, sagt klar und prägnant: Die Frage nach dem Sinn von weiblicher Beschneidung mag umstritten sein. Die verheerenden Folgen dieser Praxis lassen sich nicht abstreiten: Es sind körperliche und seelische Schmerzen! Diese Frau möchte nicht mehr dazu beitragen, anderen Frauen und ihren Angehörigen Schmerzen zuzufügen. Die Argumentationsweise und das Selbstvertrauen dieser Frau und ihrer Mitstreiterinnen haben einige Anhängerinnen und Anhänger der weiblichen Beschneidung in Kati positiv in sprachloses Erstaunen versetzt.

Beeindruckend.
Bagopha: Ja. Überhaupt fiel mir bei meinen Gesprächen mit ehemaligen Beschneiderinnen auf, dass das alles Frauen waren, die sich nicht (mehr) über das ‚Handwerk des Beschneidens‘ definieren: Ihr Einkommen, Ansehen und Einfluss in der Gesellschaft erwachsen nicht aus mehr diesem ‚Handwerk‘. Sie können sich ohne das ‚Handwerk des Beschneidens‘ entfalten und in ihre Gesellschaft einbringen: Sie sind Lehrinnen, Beraterinnen, Händlerinnen, Pflegekräfte oder Landwirtinnen.

Schmitt: Im Westen Tansanias konnte ich bei einer Reise eine ehemalige Beschneiderin erleben, die heute sehr engagiert in der Aufklärungsarbeit zu HIV aktiv ist. Sie erzählte mir über ihre Vergangenheit und zeigte mir das Beschneidungsmesser. Sie hat es in einem Kästchen aufbewahrt und schon mehrere Jahre nicht benutzt.

Bagopha: Auch die Leiterin der Partnerorganisation TAGNE ist eine beeindruckende Kämpferin gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Sie schöpft ihre Motivation und Überzeugungskraft aus ihren persönlichen Erfahrungen.

Ellen Schmitt, MISEREOR-Fachreferentin für Gesundheit bei einer Projektreise nach Tansania. Foto: Schmitt/ MISEREOR

Wie erreicht sie Veränderungen?
Bagopha: Ihr Ansatz ist einfach und unwiderstehlich: Aus Betroffenen Beteiligte machen! Sie tritt kompromisslos für das Wohlergehen der Opfer von FGM sowie für den Schutz potenzieller Opfer dieser Praxis ein und geht trotzdem geschickt kultursensibel mit dem Thema um. Sie rüttelt nicht nur die Gesellschaft wach. Sie ist auch glaubwürdig und einflussreich, weil sie auch und in erster Linie ihre Familie und ihr unmittelbares Umfeld in den Kampf um das Recht von Frauen auf körperliche Unversehrtheit einbindet.


Weitere Informationen

Genitalverstümmelung oder „weibliche Beschneidung“, im Englischen „Female Genital Mutilation“ (FGM) genannt, wird in 30 Ländern der westlichen, östlichen und nordöstlichen Regionen Afrikas, in manchen Ländern des Nahen Ostens und Asiens praktiziert. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind insgesamt mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen betroffen, mehr drei Millionen Mädchen sind gefährdet, dieser Tortur unterzogen zu werden. Aufgrund der Migration von Menschen aus den genannten Regionen in andere Länder ist weibliche Genitalverstümmelung inzwischen weltweit ein Thema – auch in Deutschland.

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Genitalverstümmelung auch in Deutschland ein Thema

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Nina Brodbeck ist Referentin für Kommunikation bei Misereor.

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