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Mexiko: Die Tragödie ist global

Leticia Gutiérrez Valderrama ist Schwester des Scalabrini-Ordens, Missionarin und Mitbegründerin von Scalabrinianas Misión para Migrantes y Refugiados (SMR) in Mexiko.  

SMR begleitet und schützt Migrantinnen und Migranten, die sich in Mexiko befinden –  meist auf dem Weg in die USA- und Opfer von Gewalt wurden. Außerdem ist sie Generalsekretärin der Fachstelle für Flüchtlinge der Mexikanischen Bischofskonferenz und Mitglied der Internationalen Mission zur Überprüfung der Menschenrechte in Zentralamerika. Wegen ihrer Arbeit wurde Schwester Leticia schon mehrfach bedroht. MISEREOR unterstützt die Arbeit von SMR in Mexiko seit vielen Jahren.

Schwester Letty, Sie waren Gründerin der Mission der „Scalabrinianas“ für Migranten und Geflüchtete in Mexiko. Was erleben diese im heutigen Mexiko und wie helfen sie ihnen durch Ihre Arbeit?

Hna Letty: Wir begleiten Migranten, die bei der Durchquerung Mexikos Opfer schwerer  Verbrechen werden. Meist sind es Menschen aus Zentralamerika, die vor der strukturellen Gewalt in ihren Herkunftsländern fliehen. Die Reise durch Mexiko macht sie zu leichter Beute für Missbrauch und Verbrechen, sowohl von Seiten der staatlichen Autoritäten als auch der organisierten Kriminalität. Die Verbrechen reichen von Entführung, Zwangsprostitution, Folter, Erpressung, bis hin zu Mordversuchen. Wir sehen teilweise Menschen, denen die Kugeln noch im Körper stecken.

Seit 2014 hat in Mexiko eine Politik der Abschreckung begonnen, die dazu geführt hat, dass Grenzen geschlossen und Mauern gebaut wurden. Wie viele andere NGOs helfen wir den Migranten und Migrantinnen dann, wenn der Staat abwesend ist und seiner Rolle nicht nachkommt. Eine wichtige Form der Begleitung ist die Aufnahme der Migranten in einem Haus, der Casa Mambré“, wo sie ankommen und sich ausruhen können. Dort helfen wir den Gewaltopfern je nach ihren persönlichen Bedürfnissen.

Schwester Leticia Gutiérrez Valderrama, Mitbegründerin und Direktorin von Scalabrinianas Misión para Migrantes y Refugiados (SMR) in Mexiko im Gespräch mit Susanne Breuer, MISEREOR.
Schwester Leticia Gutiérrez Valderrama, Mitbegründerin und Direktorin von Scalabrinianas Misión para Migrantes y Refugiados (SMR) in Mexiko im Gespräch mit Susanne Breuer, MISEREOR.

Welche Migrationspolitik verfolgt die mexikanische Regierung? Und welchen Einfluss hat die Politik der USA darauf? Gibt es seit dem Regierungswechsel zu Andrés Manuel Lopez Obrador (AMLO) neue Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation der Migranten?

Hna Letty: Die Migrationspolitik in Mexiko wird seit 2014 immer restriktiver. Unter Obama entwickelten die USA zwei maßgebliche Programme, die die Migration aus dem Süden verhindern und sie schon an der Südgrenze zu Mexiko stoppen sollten. Diese finden bis heute Anwendung: Die Deportationen von Menschen aus Zentralamerika nehmen seit 2015 zu, sodass die USA weniger Migranten aufnehmen müssen. Zwei Programme zur Sicherung der Südgrenze Mexikos haben die Sicherheit für die Menschen  durch die „nationale Sicherheit“ ersetzt.

Bis heute gibt es auch von Regierungsseite noch keine wirklich klare Position, wie sich die staatliche Migrationspolitik durch AMLO ändern wird. Seit Oktober 2018 erleben wir eine besonders starke Migration aus Zentralamerika. Gerade befindet sich zum Beispiel eine Karawane mit mehr als 2000 Menschen im Süden Mexikos in Chiapas. Der neue Präsident hat bereits positive, migrationsfreundlichere Gesten gezeigt. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Peña Nieto, der die Karawanen bis zum Ende seiner Amtszeit mit Polizeibelagerungen empfing, setzt sich López Obrador mehr für die menschenrechtsbasierte Aufnahme der Migranten ein. Er hat zum Beispiel 22.000 Visa aus humanitären Gründen vergeben. Trotzdem ist diese Maßnahme konterkariert worden, als die mexikanische Regierung entschieden hat, dass Mexiko den Status eines „sicheren Drittlandes“ annimmt, was nichts anderes bedeutet, als dass die in die USA strebenden Migranten in Mexiko festgehalten oder nach Mexiko zurückgeschickt werden können. In der Praxis verfolgen wir also doch noch eine restriktive Migrations-Politik.

Welche Bedeutung messen Sie dem UN-Migrationspakt bei? Gibt es Hoffnung, dass dieser internationale Pakt die Situation der Migranten in Mexiko verbessern könnte?

Hna Letty: Die unterschreibenden Staaten müssten sich verpflichten, nicht mehr dem Sicherheitsdiskurs zu folgen, sondern mit einer Menschenrechtsperspektive auf die Menschen als soziale Subjekte zu blicken, deren Recht auf Entwicklung unabhängig davon, ob sie legal oder illegal (regulär oder irregulär) ins Land gekommen sind, durchgesetzt werden muss.

Sehen Sie Parallelen zwischen der Migration aus Zentralamerika über Mexiko in die USA und der aus Afrika nach Europa?

Hna Letty: Auf jeden Fall. In beiden Regionen zwingt zwar die Armut an erster Stelle zur Flucht, Migration ist jedoch meistens multikausal. Man könnte meinen, die extremen Kriegszustände in Afrika, Asien oder im mittleren Osten seien nicht mit Gewaltsituationen in Lateinamerika vergleichbar. De facto befinden wir uns aber doch unter kriegsähnlichen Bedingungen, die uns auch auf diesem Erdteil zur Flucht zwingen.

Auch Menschenrechtsverbrechen sind in beiden Fällen ein latentes Problem. In Europa können die Geflüchteten genau wie in Mexiko auch „verschwinden“, Opfer von Zwangsprostitution werden, Zwangsarbeit verrichten. Die Tragödie ist also global.

Die dramatischen Bilder von Geflüchteten in Schlauchbooten oder auf/in dem mexikanischen Zug „La Bestia“ (Die Bestie), wirken immer am meisten auf uns. Aber was nach der Ankunft in Mexiko, Marokko oder Griechenland passiert, ist genauso schwierig, nur leiser und unsichtbarer. Die Menschen sprechen die Sprache nicht, müssen auf der Straße leben, wenn es keine Aufnahmezentren gibt oder sie leben zu zehnt gemeinsam in einer Wohnung. Am Anfang kann niemand  legal arbeiten. Wir müssen darüber nachdenken, dass es  denjenigen, die ankommen, noch nicht automatisch gut geht.

Haben Sie konkrete Vorschläge für die internationale Gemeinschaft, insbesondere für Deutschland, wie wir mit der wachsenden Migration umgehen und die Rechte der Migranten und Migrantinnen gewährleisten können?

Hna Letty: Das globale neoliberale, kapitalistische System ist durch seine ausgrenzende Logik die primäre Ursache für die immer explosivere und gewaltsamere Migration. Die internationale Gemeinschaft sollte es dafür offen anklagen, und in vielen Herkunftsländern den Mangel an Staat anerkennen, damit wir weniger Beweise von staatlicher Verfolgung und Gewalt von den Geflüchteten verlangen müssen. Ich spreche von Zentralamerika, insbesondere z.B. von Honduras. Dort ist der Staat auch abwesend, die Regierung hat keine Legitimität. Die vom Staat verfolgten Oppositionellen bitten bei der internationalen Gemeinschaft um Rechtsschutz und bekommen von der Politik und den Medien kaum Aufmerksamkeit. Man könnte anerkennen, dass auch weniger global sichtbare, strukturelle Gewalt Menschen in Gefahr bringt und zu Schutzbedürftigen macht.Das Recht auf politische, soziale, ökonomische und kulturelle Existenz und Entfaltung muss unabhängig vom rechtlichen Migrationsstatus einforderbar sein. Von Deutschland speziell erwarte ich, von Mexikos Regierung eine solche menschenrechtszentrierte Migrationspolitik einzufordern. Menschen müssen ihr Recht zum „Nicht-Migrieren“, also zum Bleiben, wahrnehmen können. Das bedeutet, dass man die Lebensbedingungen im Herkunftsland verbessern sollte.

Übersetzung aus dem Spanischen von Helena Raspe


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Susanne Breuer ist Referentin für Lateinamerika und Ernährung.

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