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Katerstimmung in Nigeria

Erschöpft von den Wahlen, erwarten die Menschen wenig von ihrer neuen Regierung

Alles neu macht der Mai, aber leider kaum in Nigeria. Nach den Wahlen kann von der in der zweiten Maihälfte antretenden „neuen“ Regierung – der alte Präsident ist der neue – niemand erhoffen, dass sie demnächst Lösungen für die Probleme des Landes liefert.

Ende des Wahlkampfes: Kein Grund zum Feiern

Anders als im Jahr 2015, als Nigerianerinnen und Nigerianer voller Stolz ihren historisch einzigartigen friedlichen Machtwechsel an der Staatsspitze feierten – Muhammadu Buhari (All Progressive Congress – APC) löste Goodluck Jonathan (PDP) ab, der seine demokratische Abwahl ohne Widerwillen anerkannte -, lässt sich diesmal allenfalls aufatmen, da Wahl-Kampf und Wahlmarathon endlich geschafft sind und vielleicht weniger schlimm verliefen, als manche Beobachter befürchtet hatten. Gründe zu feiern jedoch fehlen.

Muhummadu Buhari

Natürlich glichen die Wahlen einem gewaltigen Krafttakt. Von Februar bis April fanden gleich vier bzw. fünf Wahlen statt: überall im Land Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sowie in den meisten der 36 Bundesstaaten außerdem Gouverneurs-, Landesparlaments- und Gemeinderatswahlen. Eine der letzten Nachwahlen und Stimmauszählungen fand in Rivers State statt, Zentrum der Ölindustrie und chronischer Unruhehort (Stichwort Biafra).

Wahl mit Hindernissen

Dabei gestaltete sich der Verlauf der vielen Wahlen allerdings problematischer als 2015. Zunächst bedurfte es zweier Anläufe, um die Präsidentschafts- sowie Parlamentswahl (Nationalversammlung) überhaupt durchzuführen, weil in einigen Wahlkreisen anfangs noch Stimmzettel oder Lesegeräte für die Wählerausweise fehlten, wie die „Unabhängige nationale Wahlkommission“ (INEC) erst drei oder vier Stunden vor der geplanten Öffnung der Wahllokale feststellte, um diese ersten Wahlen kurzerhand um eine Woche zu verschieben (vom 16. auf den 23. Februar). Sodann erwiesen sich die vom 2. auf 9. März verschobenen Wahlen der Gouverneure sowie state house of assembly, also gewissermaßen der Landtage, von so heftigen Regelverletzungen (irregularities) gestört, dass Nigerias Wahlkommission sechs von ihnen wiederholen liess, weil sie „unvollständig“ (inconclusive) gewesen seien. An manchen Orten widmeten sich wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger vier Tage dem Wählen – oder länger, wenn sie etwa von weither an- und abreisen mussten zum jeweiligen Wahllokal, an dem sie ihr Kreuz auf den langen Stimmzettel setzen durften.

Mehrheiten bei der Präsidentschaftswahl in den Bundesstaaten
Mehrheiten bei der Präsidentschaftswahl in den Bundesstaaten

Wahlkampfauftritte forderten Tote

Und mindestens kräftezehrend, oft bedrohlich und zuweilen sogar tödlich hatte sich zuvor der Wahlkampf gezeigt, wenn er sich als physischer Kampf entpuppte statt als Wettbewerb um die Gunst der Wählerinnen und Wähler durch starke Ideen, originelle Auftritte, überzeugende Kandidatinnen und Kandidaten. So erblickten wir während des Wahlkampfs zwar auf den Straßen unseres Viertels Jabi die ein oder andere heitere road show der Parteien – beispielsweise einen Kleinlaster, dessen Ladefläche mit Hunderten Besen bespickt war (Symbol fürs Aufräumen des von Korruption geplagten Staatsapparats) oder einen Lieferwagen, auf dessen Fahrerhäuschen ein Miniaturfußballtor prangte (die Regierungspartei warb so gleichsam, im Besitz der meisten Erfolgschancen zu sein).

Aber mehr noch und negativ beeindruckten uns Szenen, wo etwa im Bundesstaat Benue Wahlkämpfer Straßensperren errichteten, um die politischen Gegner wie Feinde am Auftreten zu hindern. Wahlkampfauftritte der Parteien forderten u.a. einfach darum Tote, weil Sicherheitsbestimmungen der Versammlungsorte übergangen worden; Stadien waren völlig überfüllt, sodass bei Panik schon mal der Fluchtweg verschlossen war.

Der Kraftakt der Wahlen und des Wahlkampfs ist nun geschafft; hat jedoch auch Nigeria geschafft. Wir freuen uns über relativ entspannte Verhältnisse, wo teilweise seit über einem Jahr z.B. keine Besuche bei MISEREOR-Partnern und in Projektgebieten möglich waren. Für die meisten Leute in Nigeria weicht eine enorme Last.

Großes Misstrauen gegenüber der Wahlkommission

Doch auch wenn später im Mai die neue Regierung starten wird, ist das Wahlkapitel noch nicht abgeschlossen angesichts Hunderter oder fast Tausender anhängender Gerichtsprozesse. Denn allzu viele Menschen misstrauten der Wahlkommission, glauben nicht die durch sie bekanntgegebenen Ergebnisse. Außerdem machte vielen Wählerinnen und Wähler politische Gewalt oder Angst vor ihr zu schaffen, verstärkt von der vielfach als Bedrohung wahrgenommenen Militärpräsenz bei den Wahlen.

Ausländische Wahlbeobachter halten denjenigen in Nigeria, denen zufolge die Wiederwahl des Präsidenten Muhammadu Buhari (All Progressive Congress – APC) durch Betrug zustande gekommen sein soll, das Ausmaß seines Stimmenvorsprungs gegenüber seinem Herausforderer Atiku Abubakar (Peoples Democratic Party – PDP) entgegen (56% gegen ca. 41%), das in der Tat Manipulationen als Hauptursache des Wahlsieges unplausibel macht, hätten diese doch mehr auffallen müssen, um als Wahrscheinlichkeit gehandelt zu werden.

Atiku Abubakar

Gleichwohl bereiten die genannten logistischen Pannen der Wahlkommission neben den erklärten Unregelmäßigkeiten Kopfzerbrechen: Was wäre vermeidbar gewesen, hätte der Präsident im Vorfeld der Änderung des Wahlgesetztes zugestimmt? Die Nachbereitung steht erst am Anfang.

Eine Wahl ohne wirkliche Alternative

Am Ende des Wahlmarathons mischt sich die Erleichterung ebenfalls mit einer gewissen paradoxen Katerstimmung. Sie ist zwar widersinnig, weil keine wirkliche Alternative zur Wahl stand: In Anbetracht der Ähnlichkeit der Hauptkonkurrenten (beide sind fortgeschrittenen Alters, stammen aus Nordnigeria, sind muslimisch und gehören seit sehr langer Zeit  zum parteipolitischen Establishment), weshalb sie die Oppositionelle Obiageli Ezekwesili (Mitinitiatorin von „Bring back our Girls“ sowie selbst zeitweise Präsidentschaftskandidatin) im Wahlkampf einmal „siamesische Zwillinge“ genannt hatte, nahmen sich ihre programmatischen Unterschiede blass aus: Während sich Atiku eher als neoliberaler Privatwirtschaftsfreund stilisierte, wobei er einer Dezentralisierung das Wort redet, suchte der ehemalige General Buhari Staatsstärke sowie Äquidistanz zu verkörpern. Damit jedoch bspw. neue junge politische Kräfte als eine Wahlalternative Chancen gehabt hätten, wären breite Koalitionen von Oppositionsparteien notwendig gewesen, denen im Wahlkampf 2018 die dafür erforderliche Konsensbildung fehlte.

Andererseits erzeugte der jahrelange Wahlkampf unvermeidlich Erwartungen, gewisse Wechselstimmungen, die zumindest auf nationaler Ebene enttäuscht wurden. Nach den Wahlen stellt sich jetzt die Lage noch enttäuschender dar. Wie gesagt, herrscht Einigkeit, im Jahre 2015 seien die Wahlen friedlicher und regelkonformer verlaufen, sodass die Wahlen 2019 also gleichsam einen Rückschritt bedeuten. Zum Anderen vermochte es Buhari seitdem im Vorfeld seiner Regierungsbildung im Mai keineswegs, selbst nur den Hauch eines Neuaufbruchs zu suggerieren. Einer leichten Mindestlohnerhöhung, deren Finanzierung jedoch ungeklärt ist, stehen die Ansagen von Steuererhöhungen sowie einer wahrscheinlichen Rezension gegenüber.

Herausforderungen bleiben dieselben

Wirtschaftliche Daten bestätigen diese Katerstimmung, Börsenwerte rutschten im April auf ein Sechsmonatstief; sinkender Konsum zeugt von schwindender Kaufkraft; viele Gutverdienende schwenken von Naira- auf Dollarkonten um; neue Auslandsinvestitionen kündigen sich im schwierigen Umfeld nicht an. Herausforderungen breiter Bevölkerungsschichten bleiben dieselben: die fast überall deprimierend konstant schlechte Sicherheitslage; Korruption, Straflosigkeit und Kriminalität; staatliche Adhoc-Interventionen ohne längerfristige Programmatik; Energiearmut, Arbeitslosigkeit, schwache Infrastrukturen, katastrophale Verhältnisse im Bildungswesen (Stichwort drop outs)  sowie Gesundheitssektor (Bsp. Sterblichkeit von Müttern sowie Kleinkindern). Die so empfundene Perspektivlosigkeit schlägt sich in Umfragewerten nieder, denen zufolge viel zu viele Nigerianerinnen und Nigerianer erwägen ihre Heimat zu verlassen.

Die Aufgaben, die sich den im Mai ihre Arbeit aufnehmenden neuen Regierungen auf nationaler sowie Bundesstaatsebene stellen, sind enorm. Wenn es Chancen auf Verbesserung der Lebensverhältnisse geben soll, so gewiss nur durch den Beitrag einer starken Zivilgesellschaft.

Ein gesellschaftspolitisches Experiment macht Mut

Ermutigend vor Ort finde ich persönlich ein gesellschaftspolitisches Experiment mehrerer unserer Partnerorganisationen im Südwesten Nigerias. Dort haben sie erstmals während des Wahlkampfes so genannte „Peoples Manifestos“ erstellt, also Bürger-Wahlprogramme, in denen Bürgerinnen und Bürger ihre vorrangigen Probleme benannten, die zu bearbeiten dann die Kandidaten und Kandidatinnen mit ihrer Unterschrift versprachen.

Bürgerinnen und Bürger von Ijebu-Ode, Oyo und Ekiti werden bald sehen, wie ernst es die gewählten Amtsträger meinen. Und gemeinsam mit unseren Partnern, den beteiligten JDPC-Kommissionen, können sie sich dafür stark machen, dass diese Politiker ihre Versprechen halten.


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Andreas Kahler leitete seit April 2012 die MISEREOR-Verbindungsstelle in N`Djaména/Tschad. Seit 2018 ist er Leiter der Verbindungsstelle in Abuja/Nigeria. In seiner Arbeit kümmert er sich um den guten Dialog mit den Partnern von MISEREOR und begleitet die Projekte.

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