Für Marcelo Waschl schließt sich gerade ein Kreis. Als der Fachreferent für städtische Entwicklung in Lateinamerika 1987 seine Arbeit bei MISEREOR anfing, standen neuartige brasilianische Gemeindezentren als Räume für Hoffnung und Aktion gerade im Blickpunkt des Interesses. MISEREOR brachte dazu zwei Jahre später eigens ein Buch heraus. Wenn Waschl nun mehr als 33 Jahre später, kurz vor seinem Eintritt in den Ruhestand, zurückblickt, kann er zufrieden feststellen: Was damals noch in den Anfängen steckte, ist heute ein Erfolgsmodell auch in anderen Staaten des lateinamerikanischen Kontinents. Zum Beispiel in Mexiko.
Herr Waschl, mit Blick auf Ihr langes Berufsleben: Was ist Ihr Lieblingsprojekt?
Waschl: Mich haben von Beginn meiner Tätigkeit bei MISEREOR an die städtischen Gemeindezentren in Lateinamerika ungeheuer beeindruckt. Als junger Mensch habe ich schon als Volontär in einem solchen Zentrum in Bolivien gearbeitet. Im Mai 2019 war ich zum letzten Mal in einer solchen Einrichtung in Mexiko. Dort gibt es das Kulturzentrum „Las Jarillas“, es befindet sich im südöstlichen Teil von Mexiko-Stadt im Bezirk von Iztacalco. Der Kern von Iztacalco besteht aus sieben Stadtvierteln, dort leben heute ca. 400.000 Menschen. Die Anfänge des Kulturhauses gehen zurück auf das Jahr 1968 mit der Bewegung der Jugend dort, die für die Etablierung eines solchen Kulturhauses gekämpft hat. Damals befand sich auf dem Grundstück noch eine Mülldeponie, und mit dem Kulturhaus sollte ein Zeichen gesetzt werden für ein gemeinschaftlich organisiertes Zusammenleben im Viertel.
Die Jugendlichen arbeiteten gemeinsam an der Umgestaltung des öffentlichen Raums in ihrem Stadtteil und forderten von den Behörden ihr Recht auf würdige, sichere und nachhaltige Räume und ein größeres Angebot an Aktivitäten für junge Menschen ein. Dadurch entstand später bei den Menschen der Umgebung die Motivation, sich unter anderem an der Charta von Iztacalco für das „Recht auf Stadt“ zu beteiligen, die unter anderem den Anspruch der Bürger auf diskriminierungsfreie Nutzung von öffentlichen Räumen und Dienstleistungen festlegt. Für die neue Verfassung von Mexiko-Stadt wurde die Charta von Iztacalco zum Vorbild, auch in ihr wurde letztlich im Jahr 2017 das „Recht auf Stadt“ aufgenommen. Die MISEREOR-Partnerorganisation COPEVI (Operatives Zentrum für Wohnen und Siedeln) unterstützt das Zentrum „Las Jarillas“seit Jahren. Es ist dann schließlich ab 1997 auf Initiative eines Bürgerkomitees in Eigenleistung und nachbarschaftlicher Selbsthilfe von der Bevölkerung gebaut worden.
Was macht dieses Zentrum so ganz besonders, warum liegt es Ihnen so am Herzen?
Waschl: Weil hier auf vorbildliche Arbeit gezeigt wird, wie Stadtentwicklung gut funktionieren kann. Anders gesagt: Es bietet einen Raum für die Entfaltung von Menschen und ihrer Potenziale. Wir sprechen heutzutage immer wieder von der Notwendigkeit einer sozio-ökologischen und kulturellen Transformation in der Stadt, und hier wird sie auf beispielhafte Art umgesetzt. Bei meinem Besuch 2019 hatte ich angeregt, dass noch mehrere von solchen Zentren entwickelt werden, und zwar nicht nur in den benachteiligten, sondern auch den bessergestellten Vierteln. Mit der Besonderheit, dass diese sich auch vernetzen und austauschen. Das war bisher nicht geschehen, ist aber sehr wichtig.
Wie sieht die Arbeit der Zentren konkret aus?
Waschl: Sehr vielfältig. Es gibt über 50 Bildungs- und Kulturangebote. Das Zentrum wird monatlich von ungefähr 800 Menschen besucht. Es gibt dort zum Beispiel einen großen Garten, in dem urbane Landwirtschaft betrieben wird, wo man Kurse belegen und praktische Übungen absolvieren kann. Und alles, was die Besucher*innen dort lernen, wird dann auch zu Hause praktiziert. So entsteht in der Stadt eine vielfältige urbane Agrikultur. Das Zentrum ist sehr gut ausgestattet mit Solaranlagen, LED-Beleuchtung und Computern, es gibt Kurse für Kleinkinder zu spielerischem Lernen, es gibt eine Bühne, die von den Besucher*innen in Lehmbau errichtet wurde. Die Leute lernen, wie man kompostiert, wie man Regenwasser sammelt und zum Beispiel für die Toilettenspülung nutzen kann oder zur Verwendung in der Küche filtert. Es wird vorgeführt, wie man Wasser und Energie spart. Es wird Theater gespielt und Tanzmusik, es gibt Sportangebote und auch psychosoziale Beratung. Außerdem haben die Nutzer*innen dafür gesorgt, dass in der Umgebung des Zentrums Fahrradwege angelegt wurden.
Und das wichtigste Prinzip lautet: Alles wird von Nachbarn für Nachbarn getan. Das beeindruckt mich sehr. Man trifft hier nicht anonyme Angestellte, sondern Menschen aus der direkten Umgebung. Die Bevölkerung setzt dieses Konzept mit sehr viel Emotion und Begeisterungsfähigkeit um. Man kann schon sagen, dass hier eine einstige Utopie zur Realität geworden ist. Wenn sich ein solches Konzept weiter verbreitet, dann hat das einen großen Effekt, der weit über die Stadt hinausgehen wird, ja für ganz Mexiko gilt. Vieles aus der erwähnten Charta für das „Recht auf Stadt“ wird im Zentrum „Las Jarillas“ verwirklicht. Sie fordert eine demokratische Stadt ein, eine Stadt, die inklusiv und nachhaltig ist, die produktiv, gut bewohnbar und lebenswert ist. Um diese Ziele zu erreichen, sind bestimmte Mechanismen und Instrumente notwendig. Ein Kulturzentrum wie Las Jarillas ist genau so ein Instrument.
Sind das Zentren, die vom Staat in dieser Form nicht angeboten werden?
Waschl: In früheren Jahren gab es staatlicherseits Verbesserungsprogramme für städtische Räume, von denen auch „Las Jarillas“ profitiert hat. Eines dieser Programme ist 2019 zum Erliegen gekommen. Stattdessen gab es einen neuen Vorstoß: Die Stadtverwaltung will nun bis Ende dieses Jahres in ganz Mexiko-Stadt selbst 300 konzeptionell recht ähnliche Gemeindezentren – sogenannte „Pilares“ – bauen. Sie werden aber ganz anders ausgerichtet sein – von oben herab, staatlich diktiert. Das ist sehr künstlich. Man will dafür fast 100 Millionen Euro investieren. Es gibt in der Bevölkerung dagegen Protest, weil diese Zentren nicht die Qualität haben werden wie etwa „Las Jarillas“, das organisch von unten her von den Leuten selbst geprägt und entwickelt wurde.
Jetzt sollen die neuen staatlichen Zentren vor allem der Bekämpfung von Kriminalität und Drogenhandel dienen und der Jugend für Kultur- und Sportaktivitäten zur Verfügung stehen. Dahinter mag eine gute Absicht stehen, aber auch eine ganz andere Intention. In den staatlichen Zentren werden die Mitarbeitenden auch vom Staat bezahlt, während in einem Zentrum wie „Las Jarillas“ sich die Bewohner*innen der Nachbarschaften selbst darum kümmern müssen, dass das Zentrum lebt. Einige der Leute aus der Umgebung geben zum Beispiel im Zentrum Unterricht, sie erhalten dafür etwas Geld, ein Teil davon bleibt aber auch für das Zentrum als Unterhalt. Solch ein Zentrum ist auch Arbeitgeber für das Viertel, so wird die Caféteria von „Las Jarillas“ von einer Frau aus der Nachbarschaft geführt. Staatliche Akteure werden hier integriert, es ist dort interessanterweise eine Polizeistation eingerichtet worden, dadurch wird das Haus rund um die Uhr bewacht. Aber das Lustige ist, dass die Polizei dort auch etwas lernt. Sie sehen: In einem solchen Zentrum entstehen ganz andere Dynamiken, die von dort aus angestoßen werden.
Nochmal auf den Punkt gebracht: Es geht in diesem Zentrum also um eine nachhaltige und soziale Zukunft für die weniger wohlhabenden Bevölkerungsteile im Viertel.
Waschl: Ganz genau. Da wir uns bei MISEREOR aber für eine inklusive Stadt einsetzen, ist uns sehr daran gelegen, dass es ähnliche Zentren auch in besser gestellten Wohnvierteln gibt. Wenn es gelingt, dass die verschiedenen Bevölkerungsgruppen sich miteinander vernetzen und austauschen, dann haben wir gewonnen. Dann entsteht für alle die Möglichkeit, sich zu entfalten und ihre kulturelle Identität zu stärken. Wichtig ist uns, dass die Menschen selbst entscheiden, was in den Zentren angeboten wird, dass sie dort erhalten, was sie brauchen und dass ihnen nichts von oben diktiert wird. Dass dieses Konzept erfolgreich ist, kann man schon daran erkennen, dass sich die Jugend so intensiv beteiligt. Die hat kürzlich das Zentrum nach Tradition der mexikanischen Wandmalerei bemalt und zeigt, wie gut man durch solch ein Zentrum miteinander das Leben gestalten kann. Wenn sich die Menschen so entfalten können, dann gibt es auch weniger Kriminalität. Das zeigt: Die Menschen lehren uns selbst, wie es gehen kann.
Mein Lieblingsprojekt
In der Reihe „Mein Lieblingsprojekt“ stellen Misereor-Mitarbeitende regelmäßig Projekte vor, die ihnen besonders am Herzen liegen und geben so Menschen aus dem Süden ein Gesicht.