Vor 50 Jahren veröffentlichte Gustavo Gutiérrez die Theologie der Befreiung. Bis heute gilt das Werk des peruanischen Dominikaners als Namensgeber für einen theologischen Paradigmenwechsel. Anlässlich des Jubiläums veranstaltete MISEREOR in Kooperation mit dem Haus am Dom in Frankfurt am 17. April 2021 einen befreiungstheologischen Thementag. In Anbetracht der globalen Krisen herrschte bei den Teilnehmenden Konsens: die Theologie der Befreiung ist aktueller denn je.
Lebensrealität der Armen ernst nehmen
Mit der Entstehung kirchlicher Basisgemeinden im Lateinamerika waren bereits in den 1960er Jahren die ersten Grundkonzepte der Befreiungstheologie entstanden. Die Verbindung von Glauben und politischer Praxis waren die konkrete Umsetzung der befreiungstheologischen Option. Schon bald wurde Gutiérrez Werk, im Dezember 1971 veröffentlicht, in viele Sprachen übersetzt und entfaltete eine breite Rezeptions- und Wirkungsgeschichte – in unterschiedlichen Kontexten. Die „Teología de la Liberación“ war insofern ein Bruch mit der etablierten Lehre und zielte von Anbeginn darauf ab, die konkrete historische Realität der Armen und Entrechteten, ihre alltäglichen Erfahrungen von Leid und Unterdrückung sowie die Kraft zu Organisierung und Widerstand zum Ausgangspunkt ihrer Theologie zu machen.
Pastoraler Richtungswechsel
Die ausgehenden 1960er Jahre standen nicht nur für weltweite gesellschaftspolitische Umbrüche. Auch kirchenpolitisch fand infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1963 bis 1965) ein theologischer und pastoraler Richtungswechsel in Lateinamerika statt. Alsbald schlug denjenigen, die die Befreiungstheologie aufgriffen und in ihre pastoral-politische Praxis umsetzten, ein eisiger Wind seitens der römischen Kirchenhierarchie entgegen. Nichtsdestotrotz hat sich an unterschiedlichen Orten, oftmals auch jenseits der kirchlichen Räume, befreiungstheologische Praxis fortgesetzt und wurde angesichts sich verändernder gesellschaftlicher Bedingungen und enormer globaler Herausforderungen immer wieder neu durchbuchstabiert und weiterentwickelt. Seit dem Pontifikat von Papst Franziskus scheinen sich die Türen für die Theologie der Befreiung auch innerhalb der Kirche teilweise wieder geöffnet zu haben.
MISEREOR und die „Option für die Armen“ heute
Anlässlich dieser 50-jährigen Geschichte der Theologie der Befreiung veranstaltete MISEREOR in Kooperation mit dem Haus am Dom in Frankfurt am 17. April 2021 einen befreiungstheologischen Thementag. Auch das Engagement von MISEREOR – die Orientierung an und Option für die Armen – liegt in diesen befreiungstheologischen Impulsen begründet. Anknüpfend an die im Oktober 2019 in Rom veranstaltete Amazonien-Synode und den daraus entstandenen Prozessen stellten wir die dramatische ökologische und soziale Situation in Amazonien in den Fokus des Thementags. Dabei ging es nicht nur darum, die in Amazonien lebenden Indigenen in den Blick zu nehmen, deren Leben durch die voranschreitende Zerstörung Amazoniens immer mehr bedroht ist. Es sollte zudem aufgezeigt werden, warum die damit verbundene weltweite ökologische Katastrophe auch für uns hier von Bedeutung ist.
Schrei der Erde, Schrei der Armen
Als besonderen Ehrengast durften wir Leonardo Boff auf unserer Tagung begrüßen, ein Zeitgenosse Gutiérrez und ebenfalls ein bedeutsamer Vertreter der Befreiungstheologie. Boff gehörte auch maßgeblich zu denjenigen Theologinnen und Theologen, die begonnen, die Erde und den an ihr betriebenen Raubbau ins Zentrum der befreiungstheologischen Überlegungen zu rücken. Angesichts der ökologischen Katastrophe lässt sich ein theologischer Anthropozentrismus, der den Menschen als Krone der Schöpfung versteht, nicht mehr begründen und „der Schrei der Armen“ ist auch ein „Schrei der Erde“ – so der Titel eines einflussreichen Werkes von Leonardo Boff. Vor diesem Hintergrund hat Boff eine Ökotheologie entwickelt, die Kosmologien und Kosmo-Wissenschaften mit einbezieht und den Menschen in engster Verbundenheit zur Welt – der Erde – versteht. Dies erfordert einen Blickwechsel und die Überwindung einer vermeintlichen geschöpflichen Rangordnung, in der die nicht-menschliche Natur der Beherrschung des Menschen unterliegt.
Bande der Solidarität – für das gemeinsame Haus
Das Leben als solches in den Mittelpunkt zu stellen und uns eingebunden zu wissen in ein Netz wechselseitiger Beziehungen kann Wege zur Befreiung eröffnen. Als Christen und Christinnen sind wir aufgefordert, Sorge für das gemeinsame Haus der Erde zu tragen. Wie dies geschehen kann, darüber müssen wir mit Menschen aus anderen Kontexten in einen Erfahrungsaustausch und gemeinsames Nachdenken kommen. Weltkirchliche Strukturen bieten laut Boff gute Möglichkeiten, Beziehungen zwischen Menschen ganz unterschiedlicher Kontinente und Lebenssituationen zu knüpfen. Denn, so wie es bereits Gutiérrez 1971 formulierte, Bande der Solidarität können nur entstehen, wenn wir Freundschaften mit den Armen, den Anderen schließen und von dort aus Fragen nach Veränderungen dieser Welt hin zu mehr Gerechtigkeit stellen.
Empört Euch über das Unrecht
Die aktuelle Lage der Welt – die zunehmenden globalen sozialen und ökonomischen Spaltungen sowie die Zunahme von Gewalt und Ausbeutung – zeigt, dass die Theologie der Befreiung längst nicht der Vergangenheit angehört. Vielleicht ist sie sogar aktueller denn je. Die Aufforderung an uns lautet, den heiligen Zorn über die Unrechtsverhältnisse zu verspüren, uns zu empören und an den jeweiligen Orten, an denen wir uns befinden, Wege der Befreiung für Leben in Würde für alle und alles gemeinsam mit anderen zu suchen und zu erstreiten.
Der befreiungstheologische Thementag zum Ansehen:
dieser überblick, den die misereor-referentin, sandra lassak, gibt, erachte ich als außerordentlich wichtig und von großer bedeutung hinsichtlich eines zu initiierenden vielschichtig-komplexen polylogs zwischen individuen und kollektiven, die, wie gustavo gutierrez, leonardo boff, enrique dussel, raul fornet-betancourt, ernesto cardenal (et.al.) davon überzeugt sind, dass die exponentiell wachsenden konflikte und probleme, die die acht milliarden menschen, die den planeten erde bewohnen, verursacht haben, nicht anders als mittels gemeinsamer anstrengungen, zu bewältigen sind. gemäß des bloch’schen prinzip hoffnung – und in anlehnung an das jonas’sche prinzip verantwortung – sollten wir alle versuchen, mit den jeweils zur verfügung stehenden mitteln und möglichkeiten, die welt zu einem besseren, lebenswerteren ort für die gesamte schöpfung werden zu lassen. jeder kann dazu beitragen, die möglichkeitsbedingung dafür ist der stetige gedankliche austausch, der ohne wissenschaftliche diskurse nicht realisierbar ist. politker*innen wie anna lena baerbock haben in diesen tagen die außergewöhnliche möglichkeit, sich selbst – an den jeweiligen orten des leides/des leidens, ein bild davon zu machen, was qua politischer interventionen möglich ist/sein wird, die totale destruktion des heimatplaneten aufzuhalten, zu mindern, zu mildern, was aufgehalten, gemindert und gemildert werden kann. eine globale veränderung des denkens, handelns, der lebens- und existenzweisen, ist unumgänglich, um den planeten erde auch für kommende generationen bewohnbar zu machen. wir müssen die schreie der geschundenen kreaturen hören, weltweit unrecht und ungerechtigkeit anprangern, skandalisieren und mit allen zu gebote stehenden institutionell-politisch-sozialen möglichkeiten wege forcieren und dynamisieren, damit das das gemeinsame leben möglich ist, insofern wir allen leidenden geschöpfen die kreatürliche solidarität schulden, die uns alle miteinander verbindet.
Gott zum Gruß, wenn ihr wieder einmal einen befreiungstheologischen Thementag haltet würde ich gerne teilnehmen.
Komentar: Empört euch über das Unrecht. Ihr sprecht oder schreib viel über die Folgen des Unrechts. Aber wo wir mit in Unrecht verwickelt sind lese ich nichts.
Gruß Martin Fischer