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„Wir sind entsetzt und enttäuscht“

Viele Fragen und große Herausforderungen nach Rechtsruck in Argentinien

Mit Javier Milei haben die Argentinier*innen am 19. November bei der Stichwahl einen rechtspopulistischen Kandidaten zum Präsidenten gewählt. Den nächsten, möchte man bei den aktuellen Nachrichten aus Ländern wie den Niederlanden sagen. Nach der anhaltenden Inflation und der massiven Wirtschaftskrise haben sich 56 % der Wähler*innen für den als Außenseiter geltenden, populistischen Milei entschieden. Der Gegenkandidat und ehemalige Wirtschaftsminister Sergio Massa unterlag mit 44 %. Zu der Frage, was die Wahl für die Menschen vor Ort bedeutet, gibt die Misereor-Partnerorganisation CELS („Zentrum für rechtliche und soziale Studien“) ihre Einschätzung ab.

Der Nationalkongress in Buenos Aires, Argentinien. © Canva

Mit Milei wurde ein Rechtspopulist zum argentinischen Präsidenten gewählt. Was sind die ersten Reaktionen hierzu im Land?

Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich und spiegeln die Zerrissenheit unserer Gesellschaft wider. Im progressiven Lager konnten wir es zunächst nicht glauben. Wir als Team haben in den letzten Monaten außerordentliche Anstrengungen unternommen, um die öffentliche Debatte zu beeinflussen und die Verfestigung rechtsextremer Ideen zu verhindern. Wir sind erschöpft und enttäuscht. Das schlug aber schnell in Alarmbereitschaft um. Besorgniserregende, politische Vorhaben wie drastische Steueranpassungen oder die Neuorganisation des Staates sowie den Abbau staatlicher Strukturen verfolgen wir seither genau.

Insbesondere für die Elite des Landes ist dieser Sieg der Ultrarechten natürlich eine gute Nachricht. Sie konnten dadurch sogar finanziellen Gewinn machen. Paradoxerweise sind nun gerade in Teilen der Mittelschicht und Arbeiterklasse die Hoffnungen groß, dass Außenseiter Milei nach der jahrelangen Wirtschaftskrise eine Garantie für Wandel und Wachstum bringt. Gleichzeitig sind im zweiten Wahlgang 24 % der Wähler*innen nicht zur Wahl gegangen. Das zeigt die Frustration der Menschen: Das politische System hat es nicht geschafft, einen nicht unerheblichen Anteil der Bevölkerung mitzunehmen. Es zeichnet sich ab, dass sich die politische Landkarte, wie wir sie bisher kannten, völlig neugestalten wird.

Wie lässt es sich erklären, dass sich 56 % für einen rechtspopulistischen Kandidaten entschieden haben?

Die Wirtschaftskrise ist einer der wichtigsten Faktoren. Einerseits ist da natürlich die enorme Verschuldung des Landes. Zusammen mit der außer Kontrolle geratenen Inflation, den unlösbaren Konflikten innerhalb der Regierung, der anhaltenden Dürre sowie den Folgen der Pandemie verschärfte dies die prekäre Lebenssituation von Millionen von Menschen. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, die informelle Beschäftigung hat zugenommen. Bei ihnen hat sich das Gefühl verfestigt, außerhalb des Rahmens der Grundrechte zu stehen. Da haben sich die Erzählungen der extremen Rechten gut verfangen. Die Isolationsmaßnahmen während der Corona-Pandemie waren in der Wahrnehmung breiter Bevölkerungsschichten wahrscheinlich ein Kipppunkt. Insbesondere männliche Jugendgruppen, die historisch gesehen eher progressiv wählen, hielten verstärkt zu antifeministischen, ultraliberalen, gewalttätigen und stigmatisierenden Kandidaten*innen.

Das rasante Wachstum  von Mileis Partei, La Libertad Avanza, und die Rolle Sozialer Medien dabei erinnert an andere globale Ultrarechte, mit denen Milei Allianzen schloss: Jair Bolsonaro (Brasilien) und José Antonio Kast (Chile) auf regionaler Ebene, aber auch mit Mitgliedern von Vox (Spanien), Viktor Orban (Ungarn) und sogar Donald Trump (USA). Unserer Einschätzung nach ist die Offensive der extremen Rechten ein globales Phänomen, das auf die Unzufriedenheit der Bevölkerung abzielt, die durch die multidimensionale Krise in dieser Phase des Kapitalismus entsteht. Das bedeutet nicht, dass alle Wähler*innen Neofaschist*innen sind oder Zuflucht in radikalisierter, politischer Gewalt suchen.  Aber für einen Großteil der Wählerschaft war es keine Option, Sergio Massa zu wählen – den Kandidaten, der als Wirtschaftsminister der scheidenden Regierung keine konkreten Lösungen anbieten konnte.

Welche Folgen hat dieser Wahlausgang für Argentinien?

Derzeit ist Milei noch nicht lange im Amt, so dass wir noch kein Gesamtbild über die Ernennungen, Maßnahmen und staatlichen Umstrukturierungen haben. Einige Befürchtungen scheinen sich jedoch bereits zu bestätigen. Mit der neu ernannten Ministerin für Sicherheit, Patricia Bullrich, ist beispielsweise eine Person im Amt, unter der repressive Maßnahmen seitens der Sicherheitskräfte gegenüber der Bevölkerung zu erwarten sind. Auch ist davon auszugehen, dass die Vizepräsidentin Victoria Villarruel eine Schlüsselrolle spielen wird. Sie ist überzeugte Verteidigerin des Oberkommandos der Streitkräfte, das wiederum während der letzten Militärdiktatur für das Verschwindenlassen, die Entführung und die Folterung von Menschen verantwortlich war.

Die sozialen und politischen Bewegungen im Land haben die Kraft, dem etwas entgegenzusetzen. Dazu müssen wir uns jedoch neu organisieren und aus der Defensive herausarbeiten, um unsere historischen, demokratischen Errungenschaften zu verteidigen. Dies bezieht sich beispielsweise auf die konkrete Einflussnahme im Bereich der Menschenrechte, Gesetze zur geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt, der sozialen Entwicklung, der Umwelt, der Rechte der indigenen Völker, des Zugangs zur Gesundheit und vielen anderen. In den Bereichen, die zum Wachstum rechten Gedankenguts unter jungen Menschen beigetragen hat, sehe ich uns jedoch in der Pflicht, proaktiv zu handeln. Gerade mit Jugendlichen sollten wir deshalb zu ihren Rechten und Zukunftswünschen arbeiten.

Welche Auswirkungen sind nach diesem Wahlergebnis in der Region und global gesehen zu erwarten?

Auch hier müssen wir abwarten, wie sich die einzelnen Teile zusammenfügen. Es fällt jedoch auf, dass die Regierung einige der im Wahlkampf getroffenen, radikalsten Äußerungen bereits abgeschwächt hat. Bezüglich Argentiniens Auftreten auf internationaler, politischer Ebene ist nichtsdestotrotz mit einer radikalen Abkehr von Menschenrechtsthemen, Umweltschutz und Engagement für die feministische und LGTBIQ+-Agenda zu rechnen.


Über die Partnerorganisation:

Das Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS – Zentrum für rechtliche und soziale Studien) ist eine bereits während der Militärdiktatur 1978 gegründete argentinische Menschenrechtsorganisation. Es wird u.a. von Misereor beim Einsatz auf nationaler und internationaler Ebene für den Schutz der Menschenrechte gefördert. Seine Arbeit beinhaltet auch die Aufarbeitung der Militärdiktatur in Argentinien, den Einsatz für Wahrheit, Gerechtigkeit und Nicht-Wiederholung sowie die Anerkennung fundamentaler Rechte indigener Völker. CELS und Misereor setzen alles daran, diese wichtige Arbeit trotz der neuen Herausforderungen auch in Zukunft weiterzuführen.

Misereor/KZE fördert neben CELS zudem zwei weitere Projekt mit regionalem Bezug sowie sechs nationale Projekte in Argentinien.

Geschrieben von:

Ansprechtpartnerin

Jana Echterhoff ist Länderreferentin für Lateinamerika bei Misereor.

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