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„Wir Frauen müssen unser Leben in die eigenen Hände nehmen“

Schwester Modestine Rasolofoarivola. Madagaskar. Koordinatorin einer Nichtregierungsorganisation. Ordensfrau. Vorbild. Motiviert Frauen auf dem Land, ihr Leben aus eigener Kraft zu verbessern.

Das sind meine Wurzeln

Ich war das dritte von acht Kindern, meine Eltern hatten auf einen Jungen gehofft. Daher war ich meistens mir selbst überlassen und lernte schon früh, auf eigenen Beinen zu stehen und für mich Entscheidungen zu treffen. Ich machte Abitur, als eine von zwei jungen Erwachsenen aus meinen Heimatdorf. Heute machen dort viele Abitur. Ich wurde also schon früh zum Vorbild für andere. Das war eine wichtige Erfahrung für mich: Auch wenn man aus bescheidenen Verhältnissen kommt, kann man etwas aus sich machen. Damals lernte ich Gottvertrauen, seitdem lasse ich mich auf meinem Weg führen. Meine Lebensphilosophie folgt dem, was Jesus zum Gelähmten sagte: „Steh’ auf, nimm dein Bett und geh’“.

Das verleiht mir Flügel

Ich lerne schnell, Französisch zum Beispiel, und die Menschen mögen mich. Wenn ich in eines der Dörfer fahre, dann zeigen mir die Kinder ihre Liebe. Die Leute können mich leicht verstehen. Wenn ich früher mit dem alten Bischof unterwegs war, fuhr er mit seinem Auto voran, ich in einem viel einfacheren Wagen hinterher. Aber die Leute kamen zu mir, nicht zu ihm. Sie umringten mich, wenn die Hühner Impfstoffe brauchten oder sie mir ihre Gärten zeigen wollten. Mit kleinen Dingen lässt sich so viel erreichen, viel mehr als mit großen Gesten.

Dafür setze ich mich ein

Dass die mittellosen Menschen auf dem Land auf eigenen Beinen stehen, besonders die Frauen. Viele hier sind daran gewöhnt, dass Hilfe in Form von Almosen verteilt wird. Verantwortliche aus anderen Projekten lachen uns aus, weil sie viel mehr finanzielle Mittel bekommen als wir und dann mal hier, mal dort Geschenke verteilen. Die Politik macht es genauso. Aber damit löst man die Probleme nicht. Was die Leute brauchen, sind Ideen. Und das Selbstbewusstsein, unabhängig zu leben und Entscheidungen zu treffen. Es gibt in Madagaskar einen Spruch: „Man muss heiraten, um es gut zu haben“. Aber dann erleben die Frauen in der Ehe oft Gewalt, weil sie abhängig sind. Ich finde, dass lässt sich auf die ganze Gesellschaft übertragen.

Es muss etwas passieren, weil…

…es hier eben diese Einstellung in der Politik und in der Gesellschaft gibt: Die schlechten Straßen verbessern wir erst, wenn das Geld für Teer aus dem Ausland da ist. Also praktisch nie. Das lässt sich auf viele Bereiche übertragen: Bildung, Ernährung, Gesundheit, es tut sich nichts. So wird eine Kultur der Mittelmäßigkeit gepflegt. Deshalb müssen wir unser Leben, unsere Straßen, unsere Bildung, unsere Gesundheit und Lebensmittelversorgung in unsere eigenen Hände nehmen, statt auf Hilfe von irgendwo zu warten.

Meine Arbeit ist getan/ beendet, wenn…

…die Anderen wissen, was sie zu tun haben.

Frauen können…

…unabhängig sein und selbst für sich und ihre Familien bestimmen, indem sie das bisschen, was sie haben, voller Selbstvertrauen in die Hand nehmen und daraus etwas machen.


Hintergrund:

Schwester Modestine ist 56 Jahre alt und Ordensfrau. Einerseits folgt sie ihrem Namen „Modestine“, die „Bescheidene“, mit ihrer unprätentiösen Art, die nicht recht zu ihrer Führungsrolle passen will. Aber wenn es darum geht, ihre Ideen für die Menschen auf dem Land durchzusetzen, dann scheint ihre volle Autorität auf.

Als eine der ganz wenigen weiblichen Führungskräfte leitet sie eine Organisation, auf Kongressen ist sie oft die einzige Frau. Ihre Organisation heißt Vahatra und gehört zur Diözese von Tsiroanomandidy, einer kleinen Stadt in Madagaskar. Vahatra heißt übersetzt „Wurzel“ und will das schwierige Leben auf dem Land an der Basis verbessern, indem es vor allem Frauen fördert.

Die gesellschaftlichen und kirchlichen Rollenerwartungen an eine Frau bricht Schwester Modestine auch auf anderen Ebenen: Sie trifft ihre eigenen richtungsweisenden Entscheidungen für Vahatra und lässt sich dabei durch nichts und niemanden beirren.

Und sie hat eine Vision: Menschen aus einfachen Verhältnissen zu vermitteln, wie sie mit wenig viel erreichen können – vor allem den Frauen. Damit verschafft sich Schwester Modestine großen Respekt bei den Leuten auf dem Land.


Das Interview führte Susanne Kaiser. Als freie Journalistin und Autorin schreibt sie Bücher, Essays und Reisereportagen, meistens über Gesellschaft und Machtverhältnisse. Im Februar 2023 kommt ihr neues Buch „Backlash – Die neue Gewalt gegen Frauen“ bei Tropen von Klett-Cotta heraus. Ende 2020 erschien bei Suhrkamp „Politische Männlichkeit“. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen“.


Weitere Informationen zum Partnerland Madagaskar der Misereor-Fastenaktion 2023 und zum Download ein ausführliches Portrait von Schwester Modestine.


Sie sind Visionärinnen. Kämpferinnen. Trägerinnen von Entwicklung. Sie sind „Starke Frauen“. In unserer Reihe stellen wir sie und ihre Geschichten vor. ►Alle Interviews im Überblick

Sylvie Randrianarisoa aus Madagaskar

Geschrieben von:

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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