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Wenn der Angeklagte sein eigener Richter ist – Ein Jahr nach der Umweltkatastrophe am Rio Doce

Vor über einem Jahr ereignete sich im Bundesstaat Minas Gerais die bisher größte Umweltkatastrophe Brasiliens. Am 5. November 2015 brachen in einer Bergwerksdeponie der Firma Samarco zwei Dämme eines Rückhaltebeckens: 64 Millionen Kubikmeter Bergbauschlamm zerstörten drei Dörfer und töteten 19 Menschen, bevor sich die Schlammlawine in den Fluss Rio Doce ergoss. Dort hinterließ sie eine 680 Kilometer lange Schneise der Verwüstung, die 3.000 Fischerinnen und Fischer arbeitslos machte und 3,5 Millionen Menschen ohne geregelte Trinkwasserversorgung zurückließ.

Wie geht es den Menschen am Fluss heute? Wer setzt sich für ihre Rechte ein und wie steht es um ihre Entschädigung seitens des Unternehmens? Wir sprachen darüber in der Aachener Geschäftsstelle mit Julia Fernandes Silva und Tchenna Fernandes Maso von der Bewegung der Staudammbetroffen (Movimento dos Atingidos por Barragens – MAB). Die Bewegung setzt sich für die von industriellen Großprojekten betroffenen Flussanrainer ein und wird seit Jahren von MISEREOR gefördert.

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Tchenna Fernandes Maso(links) ist Anwältin und Regionalverantwortliche bei MAB, Julia Fernandes Silva (rechts) ist Projektkoordinatorin für Planung, Monitoring und Evaluierung ©Thomas Kuller/MISEREOR

Wie ist die Situation am Rio Doce über ein Jahr nach dem Dammbruch in Minas Gerais?

Manche Optimisten sagen, die Natur am Fluss könne erst in fünfzig Jahren beginnen sich zu erholen. Das Wasser und das Land am Ufer sind kontaminiert. Der Schlamm hat sich im Boden und an Baumwurzeln festgesetzt. Das wirkt sich auf die Gesundheit der Anwohner und auch der Tiere in der Region aus. Aufgrund der Trockenzeit wird kontaminierte Erde als Staub in die Luft gewirbelt und von den Menschen eingeatmet. Viele haben Atemprobleme. Andere bekommen Ausschläge, weil sie das Wasser zum Baden und zum Waschen ihrer Kleidung benutzen. Vielerorts herrscht nach wie vor Trinkwassermangel. Der Fluss ist immer noch stark verschmutzt und viele Städte haben keine alternativen Wasserquellen. Sie sind immer noch auf staatliche Wasserlieferungen angewiesen, die per Lastwagen von weit her angeliefert werden müssen. Das bereitgestellte Wasser reicht jedoch bei weitem nicht aus.

Hat die Betreiberfirma Samarco Verantwortung für die Katastrophe übernommen?

Samarco behauptet, ein Erdbeben habe den Dammbruch ausgelöst und dass es vorab keine Anzeichen auf Unsicherheit am Rückhaltebecken gegeben habe. Doch es gibt Beweismittel, die dieser Darstellung widersprechen. Interne Berichte und die Kommunikation zwischen Mitarbeitern der Firma belegen, dass sie durchaus über die Gefahren des bevorstehenden Dammbruchs im Bilde waren. Die Beweismittel zeigen außerdem, dass sich die Mitarbeiter, als der Damm bereits gebrochen war, dazu entschlossen, die Familien und Gemeinden, welche die Schlammlawine erreichen würde, nicht über die Gefahr zu informieren. Sie überließen sie ihrem tödlichen Schicksal. Gegenüber der Öffentlichkeit und der Justiz bestreitet die Firma das selbstverständlich, um keine Schuld einzuräumen.

Wie steht es um die Entschädigung der Betroffenen?

Samarco und die brasilianische Regierung haben sich auf eine Entschädigungssumme von etwa 5,5 Milliarden Euro verständigt. Zum Vergleich: Im Falle der Ölkatastrohe im Golf von Mexiko im Jahr 2010 wurden Entschädigungen im Umfang von 150 Milliarden US-Dollar gezahlt. Das zeigt, dass die angebotene Entschädigungssumme wesentlich zu niedrig ist. Die Bemessung entbehrt zudem einer wissenschaftlichen Grundlage. Die Auswirkungen der Katastrophe auf die Umwelt und die Gesundheit der Betroffenen sind noch nicht hinreichend erforscht. Solange dies nicht der Fall ist, lässt sich gar keine angemessene Entschädigungssumme ermitteln. Wir kritisieren zudem, dass die Betroffenen nicht in den Prozess der Ermittlung der angemessenen Entschädigungssumme eingebunden waren.

Wer entscheidet denn überhaupt, wer als betroffen gilt und wer nicht?

Der Angeklagte ist bisher sein eigener Richter. Samarco-Mitarbeiter entschieden eigenmächtig darüber, wer Anrecht auf Entschädigung hat und auf welche Summe. Die Firma betrachtet nur jene als „betroffen“, die durch die Katastrophe ihr Haus verloren haben. Was die Wohnungsnot angeht, sind aus Sicht von Samarco 28.000 Personen betroffen. Menschen entlang des Flusses, die zwar nicht ihr Haus verloren haben, aber dafür nicht mehr fischen oder das Wasser nicht mehr für die Bewässerung ihrer Felder nutzen können, würden demnach nicht entschädigt werden. Wir glauben, dass im gesamten Flussgebiet 1,5 Millionen Menschen betroffen sind.

Wie weit ist der Wiederaufbau der zerstörten Gebäude und Infrastruktur seitens Samarco bislang vorangeschritten?

Überhaupt nicht weit. Es gibt viele Familien, die noch bei Freunden oder Verwandten leben. Niemand weiß, wann diese vorübergehende Situation wirklich vorübergeht. Nur in wenigen Gemeinden hat die Firma bislang zerstörte Gebäude und öffentliche Infrastruktur wiederhergestellt. In diesen Fällen entscheidet die Firma jedoch eigenmächtig, wie die Häuser wieder aufgebaut werden oder welche Straße gesäubert wird. Zudem kommen die bisherigen Wiederaufbaumaßnahmen nur bedingt den Menschen vor Ort zugute. Als eine der ersten Maßnahmen ließ die Firma die stehengebliebenen Häuser neu anstreichen, damit Menschen von außerhalb nicht mehr sehen können, bis zu welcher Höhe der Schlamm das Dorf eingedeckt hatte. In der Nähe der Unglücksstelle war es bis zu acht Meter hoch! Und auf einer Schneise entlang des Flusses, in der die Bewohner vorher Gärten angelegt und Gemüse angepflanzt hatten, ließ die Firma eine Straße für ihre Lastwagen errichten.  Samarco nutzt diese Fälle trotzdem, um aufzuzeigen, dass sie sich um Säuberung und Wiederaufbau bemühen. Das tut die Firma vor allem, um möglichst schnell die Lizenz für die Wiederinbetriebnahme der Mine zu erhalten.

Wie hat Ihre Bewegung der Staudammbetroffenen auf die Katastrophe reagiert?

Als MAB haben wir schon vor der Katastrophe in der Region gearbeitet und mit den Gemeinden Beziehungen aufgebaut. Nach dem Dammbruch konnten wir daher schnell reagieren und viele Menschen mobilisieren, um den Betroffenen zu helfen. Es wurde Trinkwasser verteilt, Notunterkünfte wurden organisiert und die Menschen mit Informationen versorgt. MISEREOR stand uns in dieser Situation mit der Förderung eines neuen Projektes zur Seite, das sich auf die betroffene Region fokussiert. Zuvor unterstützte MISEREOR uns bereits auf nationaler Ebene.

Wie sieht Ihre Arbeit dort aus?

Uns geht es vor allem darum, die Betroffenen von Staudammbauten und industriellen Großprojekten zu ermächtigen, ihre eigenen Rechte einfordern und sich für eine gerechte Entschädigung einsetzen zu können. Unsere Organisation ist eine soziale Bewegung, die Menschen mobilisiert, organisiert und über ihre Rechte informiert. In der Folge führen sie selbstständig Aktionen durch und üben Druck auf politische Entscheidungsträger aus. Dies unterstützen wir im Sinne der Betroffenen durch unsere eigene Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit auf nationaler Ebene.  Dabei sollen vor allem die Probleme der Betroffenen und die Gefahren für sie sichtbar gemacht werden, zum Beispiel durch Videos oder eine Fotodokumentationsreihe. Schließlich sind wir auf lokaler und regionaler Ebene im Dialog mit der Staatsanwaltschaft, um auf die Einhaltung der Verfassung zum Schutze der Betroffenen zu drängen.


Weitere Informationen:

MISEREOR-Referent Stefan Tuschen besuchte zum Jahrestag der Katastrophe eine von MAB organisierte Kundgebung in der Unglücksregion.

Engagement gegen den Staudamm am Tapajós: Über 50.000 Unterschriften der Petition übergeben

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Thomas Kuller ist Fachreferent für Friedensförderung und Konflikttransformation bei MISEREOR.

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