Ich bin in Pacaraima, der Grenzstadt von Brasilien nach Venezuela. Es gibt nur diesen einen Übergang zwischen beiden Ländern. Eine unscheinbare Stadt mit 6000 Einwohnern, eigentlich ein verschlafenes Provinznest. Doch seit einiger Zeit ist es mit der Ruhe vorbei. Seit dem letzten Jahr kommen täglich hunderte Flüchtlinge aus Venezuala hier an, um aufgrund der katastrophalen Lage in ihrem Heimatland Schutz zu suchen.
Staatliche Stellen sind mit dem zunehmenden Flüchtlingsstrom überfordert. Sowohl die Landesregierung von Roraima als auch die Bundesregierung in Brasilia ignorierten das Thema lange. Zuerst gab es keine Infrastruktur, nur einen kleinen Grenzübergang und eine Kaserne der Armee. Überfüllte Notunterkünfte zwingen die Zuwanderer dazu, auf der Straße, unter Brücken oder in Zelten zu schlafen.
Die zugespitzte Lage führte zu Konflikten zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Die Situation im Grenzgebiet eskalierte, als im August hunderte verärgerte Anwohner auf die Straße gingen und Zelte im venezolanischen Flüchtlingslager anzündeten. Etwa 1200 Venezolaner flohen daraufhin zurück über die Grenze. Nur durch das (verspätete) Einschreiten der Polizei ist es nicht zu Verletzten oder Toten gekommen.
Weckruf für den Staat
Die Ausschreitungen waren offenbar ein Weckruf für den Staat: Die Armee wurde zur Errichtung von Übergangs- und Auffanglager beauftragt und die Zusammenarbeit mit UN-Organisationen fing an (zum Beispiel mit UNHCR, IOM, UNFPA). Das war spät, für viele viel zu spät. Glücklicherweise hat die Kirche mit ihrer Unterstützung nicht so lange gebraucht. Seit Beginn der Krise steht sowohl in Pacaraima als auch in der 200 km südlich gelegenen Bundeshauptstadt Boa Vista die Kirche an der Seite der Menschen, um die größte Not zu lindern. So hat der örtliche Pfarrer Jesus in Pacaraima schon frühzeitig Räumlichkeiten geöffnet und bietet seitdem jeden Morgen ab 5 Uhr ein Frühstück an. Unterstützt wird er von zwei Pfarrern und zwei Ordensschwestern, die von ihrer Kongregation in die Grenzstadt geschickt wurden. Durch ihren Einsatz können zwischen 500 und 1000 venezolanische Flüchtlinge mit einem Frühstück versorgt werden.
Aber gelöst hat sich noch nichts. Nur ein Teil der hier in Pacaraima ankommenden Flüchtlinge, es sind immer noch zwischen 400 und 500 pro Tag, bekommt ihre Papiere. Ein Großteil reist einfach auf eigene Faust weiter – ohne jede Registrierung. Die, die es bis ins Übergangslager schaffen, dürfen dort nur maximal fünf Tage bleiben. Wenn sie ihre Papiere zusammen haben, müssen sie das Lager verlassen und stehen dann wortwörtlich wieder auf der Straße. Aus Angst vor der Bevölkerung treiben sich viele tagsüber herum und warten die Dunkelheit ab, um sich in Häusernischen zu legen. Seit den gewaltsamen Übergriffen im August hat keiner mehr den Mut ein Zelt aufzustellen. Die meisten reisen dann so schnell wie möglich weiter nach Boa Vista – mit dem Sammeltaxi, dem Bus oder auch zu Fuß, 200 km in sengender Sonne, ohne eine Ortschaft auf der gesamten Strecke.
Notunterkünfte seit Wochen überfüllt
Die Lage in Boa Vista ist ähnlich angespannt: Hier gibt es zwar insgesamt 11 Auffanglager mit ca. 6.000 Betten, doch diese sind seit Wochen überfüllt. Flüchtlinge, die aus Pacaraima kommen, stehen vor verschlossenen Türen. Viele Familien sind ihrem Schicksal überlassen. Die meisten bringen aus Venezuela wenig mehr mit als die Kleidung, die sie am Leib tragen. Die Caritas der Diözese und vor allem die Ordensschwestern der Scalabrini kümmern sich um die Menschen. Dabei stehen die Erstversorgung mit dem Notwendigsten als auch die Unterstützung bei Behördengängen im Vordergrund. Nicht zuletzt geht es auch um die Versorgung mit Wohnraum, denn die Zahl obdachloser Venezolaner nimmt wieder zu.
Schwester Valdizia Carvalho ist eine Scalabrini, mit vollem Einsatz und Herz dabei. Es ist eine Freude mit anzusehen, wie sie den Menschen hilft, mit Rat und Tat, vor allem aber auch mit einem offenen Ohr, denn viele möchten ihre Geschichte erzählen. So war es auch mit Julio, einen Informatik Ingenieur, den wir auf dem Weg von Pacaraima nach Boa Vista trafen. Auch aus ihm sprudelte es heraus, als wir in fragten, wo er hinwolle. „Zurück nach Boa Vista“, sagte er sofort. „Ich bin schon seit drei Monaten dort und habe nur kurz Verwandte in Pacaraima besucht.“ Er wolle auf jeden Fall in Brasilien bleiben, so Julio mit voller Überzeugung. Er lerne auch schon fleißig Portugiesisch und habe erste Aufträge zum Programmieren, denn das sei schließlich das, was er am besten könne.
Aufbruch in ein besseres Leben
Wir fragen nach den Gründen seiner Flucht. Julio wird sehr nachdenklich und auch traurig. Seine Frau und Tochter seien noch in Santa Helena, erzählt er. Das ist die nächste größere Stadt auf venezolanischer Seite. Er hatte einen kleinen Laden für Computer und Zubehör dort. Das Geschäft lief für ein paar Jahre ganz gut und ernährte sowohl ihn als auch seine Familie. Doch mit der Wirtschaftskrise gingen auch die Einnahmen zurück. „Als ich dann merkte, dass das Geld nicht mal mehr für die Miete reichte, von Lebensmitteln ganz zu schweigen, bin ich aufgebrochen, um ein besseres Leben in Brasilien zu finden!“.
Auch Julio war morgens zum Frühstück in der Pfarrei in Pacaraima. „Der Ort ist ein Segen für uns Flüchtlinge!“, sagt Julio noch beim Abschied. Ich bin mir sicher, dass er seinen Weg machen wird.
Über den Autor: Malte Reshöft ist Leiter der Lateinamerika-Abteilung bei MISEREOR.
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