Am 1. Februar 2021 putschte sich das burmesische Militär gewaltsam an die Macht. Es erkannte die regulär durchgeführten Parlamentswahlen im November 2020 nicht an, die ihm nahestehende Partei hatte eine krachende Niederlage einstecken müssen. Seitdem wurden mehr als 1.500 Zivilist*innen getötet, darunter auch viele Kinder, und mehr als 8.800 Menschen festgenommen. Der Widerstand der Zivilgesellschaft gegen die Junta ist groß und wird in vielen Teilen des Landes inzwischen bewaffnet geführt. Die COVID-19-Pandemie, die das Land seit zwei Jahren fest im Griff hat, führte zusammen mit dem Putsch zu einem Niedergang des Gesundheitswesens und der Wirtschaft. Mit dem Putsch und den folgenden Wellen von Gewalt wird nicht nur der sich langsam entwickelnden Demokratie ein Ende gesetzt, sondern sie stellen auch eine kollektive Retraumatisierung angesichts von Jahrzehnten der Militärherrschaft dar. Dr. Simone Lindorfer, Misereor-Beraterin und Trauma-Expertin, berichtet im Interview über die Traumata der Menschen in Myanmar und ihren Ansatz der Traumasensibilität. Die Fragen stellte Corinna Broeckmann, Regionalreferentin für Myanmar und Thailand bei Misereor.
Wie sind Sie zum Thema Trauma und Traumasensibilität gekommen?
Simone Lindorfer: Trauma habe ich als mein Thema während eines Praktikums als Psychologin in Bosnien während des Krieges entdeckt. Damals war Traumapsychologie eine junge Disziplin. Meinen Jahren in Ostafrika von 1998 bis 2002 verdanke ich viele Lernerfahrungen über community-orientierte emanzipatorische psychosoziale Arbeit. So nannte ich damals, was ich heute als Traumasensibilität beschreibe. Was mich an dem Konzept der Traumasensibilität fasziniert, ist, dass sie fachlich nicht auf Trauma-Fachleute begrenzt ist, sondern in allen beruflichen Feldern umgesetzt werden kann, auch in Familien und Dorfgemeinschaften. Traumasensibilität nimmt Menschen in ihren Leiderfahrungen durch Gewalt, Ohnmacht und Ungerechtigkeit wahr und ernst. Sie fokussiert sich darauf, dass diese Menschen gestärkt werden in ihren je eigenen Selbstheilungskräften.
Mir ist vor allem ihr emanzipatorisches Potenzial wichtig, denn meiner Erfahrung nach stärkt Traumasensibilität nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Helfenden. Ein Beispiel aus meiner aktuellen Arbeit mit Organisationen in Myanmar: Schaue ich mir als Mitarbeitende einer Organisation, die humanitäre Hilfe leistet, die Zunahme an drogenabhängigen Jugendlichen in Gemeinden Myanmars mit einem traumasensiblen Blick an, dann sehe ich in ihnen nicht „undisziplinierte“ oder „moralisch schlechte“ Personen, wie sie häufig von ihren eigenen Gemeinden gesehen werden, sondern traumatische Reaktionen junger Menschen, die mit all den zerbrochenen Lebensperspektiven nicht anders zurechtkommen. Wenn ich das weiß, kann ich andere Interventionen setzen und zum Beispiel mit den Eltern und Verantwortlichen in der Gemeinde Gespräche führen, wie diese Jugendlichen eingebunden – statt ausgestoßen – werden können.
Sie waren 2019 zum ersten Mal in Myanmar. Welche Erfahrungen und Eindrücke haben Sie aus dem Land mitgebracht? Was hat Sie beeindruckt?
Simone Lindorfer: Mich hat einerseits die Verflochtenheit verschiedener traumatischer Zeitebenen – nämlich die Jahrzehnte von Militärdiktatur und die aktuellen bewaffneten Konflikte vor allem im Norden des Landes – berührt, wie sie sich in den Geschichten der Menschen widerspiegelte. Doch waren neben aller Verletzlichkeit auch ein unbändiges Engagement und erstaunliche Stärke spürbar. Mir begegneten ungebrochener Gestaltungswille, viel Kreativität und Mut, gegen Unterdrückung einzustehen. Gleichwohl nahm bei all meinen Gesprächen die Notwendigkeit von Selbstfürsorge und Stärkung der Leitung von Organisationen großen Raum ein. Diese Themen sollten in geplanten Schulungen und in weiteren Beratungen bearbeitet werden. Doch kam es dann anders, ich konnte die geplanten Reisen pandemiebedingt nicht mehr machen.
2021 nach dem Putsch in Myanmar haben Sie begonnen, mit Mitarbeitenden von vier Misereor-Partnerorganisationen Gespräche zum Thema Traumasensibilität zu führen. Welche Methoden haben Sie benutzt? Wie haben Sie sich dem Thema mit den Partnern genähert?
Simone Lindorfer: Wir haben über Zoom zunächst Vorgespräche mit den verantwortlichen Personen geführt: Was bewegt die Mitarbeitenden besonders? Welche Belastungen erleben sie am dringlichsten und welche Unterstützung haben sie bereits? Dabei wurde deutlich, dass aufgrund der politischen Unsicherheit ein geschützter Rahmen innerhalb der Organisation am geeignetsten war. Dann vereinbarten wir pro Organisation eine je zweistündige Zoom-Sitzung einmal pro Monat mit Themen, die die Organisation selbst bestimmen konnte. Vieles war dabei ähnlich: Selbstfürsorgestrategien im Alltag einüben angesichts anhaltender traumatisierender Situationen, Trauma-Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen erkennen lernen, damit Eltern, Lehrer*innen und Mitarbeiter*innen von Organisationen sie traumasensibel unterstützen. Andere Themen waren individualisierter und hatten mit verschiedenen Zielgruppen zu tun: Eine Organisation beschäftigte das Thema Versöhnung, eine andere wollte sich intensiv mit Trauer und Trauerarbeit auseinandersetzen.
Die Sitzungen waren immer ähnlich aufgebaut: Eine einfache Körper- oder Atemübung zu Beginn, eine kurze Runde zu dem, was seit der letzten Sitzung stärkend war, ein inhaltlicher Input meinerseits und eine gemeinsame Diskussion. Und zum Abschluss die Festlegung des Themas für die nächste Sitzung und wiederum eine Übung.
Wie viele Personen haben an den Gesprächen teilgenommen?
Simone Lindorfer: Das war sehr unterschiedlich: In einer Organisation waren es immer nur drei Personen, die ihr Wissen dann an ihre Teams weitergeben konnten. In einer anderen Organisation waren es kontinuierlich 15 Personen. Mal gab es kleinere Zoom-Sitzungen wegen Internet-Problemen oder weil die Mitarbeitenden nach Überfällen durch das Militär in Dörfern kurzfristig zur Verteilung von Hilfsgütern unterwegs waren. Dennoch war ich immer tief beeindruckt, wie zuverlässig und interessiert die Teilnehmenden dabei waren.
Wie waren die Reaktionen? Wie effektiv sind solche Gespräche per Zoom?
Simone Lindorfer:Ich war sehr skeptisch zu Beginn. Nach damals fast einem Jahr Pandemie war ich von Zoom-Sitzungen selbst auch schon erschöpft. Aber ich sah und sehe die Veränderungen in diesem gut dreiviertel Jahr deutlich: Eine Organisation hat sich zum Beispiel durch den Input zu Traumareaktionen bei Jugendlichen diese neue Zielgruppe so zu Herzen genommen, dass sie ein kleines Jugendkomitee gründete. Die Jugendlichen waren dann auch bei den Sitzungen dabei, stellten ihre Fragen, suchten nach Hoffnung – und wollten lernen, wie sie ihren Altersgenossen helfen könnten. Ein Mitarbeiter einer anderen Organisation hat sich unsere Sitzungsstruktur für seine Treffen mit Gemeindeverantwortlichen zu eigen gemacht, am Beginn immer mit der Frage anzufangen, was seit dem letzten Treffen stärkend und gut war. Es gibt viele solcher professionellen und persönlichen Veränderungen. Meine Erwartungen, was per Zoom an Beziehungsaufbau und Kompetenzstärkung in einer anhaltenden Krise möglich sein würde, wurden von der Realität übertroffen.
Wie stellt sich Ihnen die Situation in Bezug auf Trauma in Myanmar nach einem Jahr des Gespräches und des Austausches dar? Was haben Sie selbst erfahren und gelernt?
Simone Lindorfer: Vieles erscheint wohl so pessimistisch wie vor einem Jahr. Der Schock des 1. Februar 2021 ist einer zunehmenden Trauer gewichen. Trauer angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen, dem Tod friedlich demonstrierender Jugendlicher, Trauer um die vielen Menschen, die ohne angemessene medizinische Versorgung an COVID-19 gestorben sind. Trauer um die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft. Dennoch erlebe ich auch die Stärke und das ungebrochene Festhalten an jenen Werten, die diese Partnerorganisationen zusammenhalten. Ich habe gelernt, dass das Miteinander-Aushalten wirklich stärken kann. Dass es Humor und ungeahnte Lebensfreude im Alltag gibt, auch in einem so angespannten und unsicheren wie in Myanmar. Ich habe vor allem von den direkten Begegnungen mit den Jugendlichen gelernt, wie zerrissen sie sich fühlen zwischen ihrer Wut und ihrer Verletzlichkeit. Und die Bedeutsamkeit einer mitfühlenden und sensiblen Leitung in Organisationen.
Wie geht es weiter?
Simone Lindorfer: Wir werden weitermachen mit den monatlich bis 6-wöchentlichen Zoom-Sitzungen und auch gemeinsame Themen – über die Organisationen hinweg – anbieten. Das wurde am Ende des Jahres als Möglichkeit zum Austausch zwischen den Organisationen angedacht. Wir möchten auch speziell das Thema traumasensible Leitung in Organisationen einbringen und laden konkret dazu die Direktor*innen einiger lokaler kirchlicher Organisationen zu einer Sitzung anlässlich des Jahrestages des Militärputsches ein. Es geht also weiter im Sinne einer offenen Reise, die die Organisationen selbst bestimmen.
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