Suche
Suche Menü

Die Idee des Fairen Handels

Warum war ausgerechnet MISEREOR von Beginn an am Fairen Handel beteiligt und was war eigentlich das erste fair gehandelte Produkt in Deutschland? Erwin Mock gibt die Antworten. Er war von Anfang an maßgeblich am Aufbau des Fairen Handels in Deutschland beteiligt. Seit 1969 war er bei MISEREOR Leiter der Abteilung Bildung und Pastoral.

Wann und wo entstanden die Ideen für fairen Handel?

Erwin Mock: Seit 1. Januar 1969 war ich bei MISEREOR als Referent für entwicklungspolitische Bildungsarbeit und Pastoral beschäftigt. Einer meiner ersten Koalitionspartner war der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). Bereits im Herbst 1969 publizierten wir gemeinsam das Arbeitsheft „Entwicklungshilfe: Themen-Thesen-Aktionen“. Vom aej (Evang. Jugendverband) und BDKJ wurde nach den Friedensmärschen vom Frühjahr 1970 dann im Herbst des gleichen Jahres ein entwicklungspolitischer Arbeitskreis etabliert. Dieses Gremium begleitete die Entstehung der Aktion „Dritte Welt Handel“ (A3WH).
Der Dritte Welt Handel ging eindeutig von diesen beiden konfessionellen Jugendverbänden aus. Wir befanden uns ja noch in der Zeit der studentischen Protestbewegung. Die Mechanismen des Welthandels wurden zum ersten Mal in Frage gestellt.

Welche Rolle spielte MISEREOR in den Anfängen des Fairen Handels in Deutschland und warum war gerade MISEREOR beteiligt? Welche Rolle spielte die Nähe zu den Niederlanden?

Mock: Ich stand in engem Kontakt mit dem BDKJ. So war es klar, dass ich bei der Gründung des Arbeitskreises ‚Dritte-Welt-Handel‘ Mitglied im Leitungskreis der sogenannten A3WH wurde, der sich im Juni 1971 konstituierte. Die Beziehungen zwischen der niederländischen Stiftung S.O.S. und MISEREOR bestanden schon vorher. Paul Meijs, der Chef von S.O.S., hatte von MISEREOR Partner erbeten, bei denen er seine kunsthandwerklichen Produkte (Figuren, Masken, Gefäße aus Holz etc.) bestellen konnte. Bei der Nähe zu Kerkrade lag nahe, dass auch die Aktion Dritte Welt Handel den Kontakt zu S.O.S. suchte. Bereits im März 1971 saßen wir Deutschen (BDKJ, aej, Harry Neyer von Justitia Pax und ich von MISEREOR) im Vorstand der holländischen Stiftung S.O.S. mit Sitz in Kerkrade. Zwei Jahre lang verantworteten wir die Geschäftspolitik der Holländer mit; unsere Gruppen bezogen ihre Ware aus Kerkrade, uns selbst ging es vor allem um den Auf- und Ausbau unserer deutschen A3WH.

Erst am 3. Oktober 1973 gründeten wir dann die gemeinnützige „Gesellschaft für Handel mit der Dritten Welt“ als deutsch-niederländische Tochter der Stiftung S.O.S. Mit 1000.- DM Geschäftsanteil war ich zusammen mit Herrn Meiijs von S.O.S. Gesellschafter dieser Handelsfirma mit Sitz in Aachen. Sie war Vorläufer der GEPA, die dann 1975 als deutsche Handelsgesellschaft gegründet wurde. Wir trennten uns übrigens als Freunde von den Niederländern, zumal wir den Mitarbeiter Jan Hissel als neuen Geschäftsführer der GEPA einstellten.

Eine Packung Kaffee
Der erste fair gehandelte Kaffee in Deutschland war der Indio-Kaffee aus Guatemala.

Warum war Kaffee das erste fair gehandelte Produkt, das in Deutschland verkauft wurde? Welche Produkte kamen nach dem Kaffee?

Mock: Uns war schnell klar, dass der Import von kunsthandwerklichen Produkten nicht ausreichte. Die Partner in der Dritten Welt produzierten ja Waren, die für unser Leben in Europa unverzichtbar waren. MISEREOR hatte schon vorher den Verband kaffeeproduzierender Kleinbauern in Guatemala (Fedecocagua) unterstützt. So lag es nahe, dass wir von diesem MISEREOR-Partner den ersten Kaffee importierten. Es waren 50.000 kg, für deren Abnahme P. Tarara SJ von der aktion 365, mit dem ich engen Kontakt hatte, die Garantie übernahm. Ohne ihn wäre Paul Meiijs das kommerzielle Risiko nicht eingegangen. Zusammen mit dem NDR haben wir dazu den Film ‚Guatemala – erste Sorte‘ produziert, für den ich das Drehbuch schrieb. In den Diözesanfilmstellen wurde dieser Film zum Schlager und hat die Vermarktung des sogenannten Indio-Kaffees enorm gefördert. 

Die nächsten Produkte waren Tee, Schokolade und vor allem Jute aus Bangladesch. Die Tasche ‚Jute statt Plastik‘ war das Signalprodukt für die MISEREOR-Aktionen vom „Anders leben“, die sieben Jahre gedauert haben. Sie waren der vergessene Vorläufer der aktuellen Kampagne der Klima-Nachhaltigkeit.

Drei Frauen ernten Kaffeekirschen
Drei Frauen des Kooperativenverbands FEDECOCAGUA in Guatemala mit geernteten Kaffeefrüchten. Weltweit waren die Kaffeebauern der Kooperative die ersten, die ihren Kaffee an den Fairen Handel verkaufen konnten. (Fotograf: mmpro.global filmproduction.)

Gab es ein bestimmtes Erlebnis, das Ihren Einsatz für den Fairen Handel ausgelöst hat? Wie kamen Sie auf die Idee?

Mock: Die Aussage „Die Menschen in der Dritten Welt sind arm, und wir helfen mit unserer Spende“, genügte nicht mehr. Es wurde gefragt, wer sie arm gemacht hat. Wir hatten damals Kardinal Lorscheider (+ 2007) bei MISEREOR zu Besuch. Er sagte uns: „Die Menschen im Nordosten Brasiliens sind nicht arm. Sie werden arm gemacht. Sie werden ausgebeutet.“ Dieser Paradigmenwechsel hat mich geprägt. Mir wurde klar, dass die sogenannten unterentwickelten Menschen nicht über ihre Defizite, sondern über ihre Werte und Qualitäten definiert werden müssen. Von daher wurde klar: Entwicklungshilfe ist keine Einbahnstraße vom Norden in den Süden, nein, sie beinhaltet Partnerschaft, sie fordert Gegenverkehr. Die Behebung von Armut sollte nicht nur durch den Transfer von Geldern stattfinden, sondern auch dadurch, dass wir den Menschen im Süden ihre Produkte zu einem fairen Preis abkaufen und hier vermarkten.

Mein Engagement bei der Aktion Dritte Welt Handel wurde anfangs von meinem damaligen Chef, Prälat Dossing, etwas argwöhnisch beäugt. Ich hatte bei MISEREOR ja ohnehin genug zu tun. Das Argument: Wir leisten bei unseren Partnern finanzielle Hilfe zur Selbsthilfe, aber wir helfen denen, die etwas produzieren, vor allem dadurch, dass wir ihre Waren zu einem fairen Preis in Deutschland vermarkten, hat dann aber eingeleuchtet. Aber es war am Anfang halt eine ‚fremde Firma‘, die ich ins Haus geholt habe. Da wird dann halt auch gefremdelt. Später, als MISEREOR offiziell bei der GEPA Gesellschafter wurde und der Kapitalbedarf immer stärker wuchs, musste die gleiche Überzeugungskraft vom damaligen Geschäftsführer Gottfried Baum bei den Bischöfen eingesetzt werden. Was ihm auch überzeugend gelang!

Erwin Mock war von Anfang an maßgeblich am Aufbau des Fairen Handels in Deutschland beteiligt. Seit 1969 war er bei MISEREOR Leiter der Abteilung Bildung und Pastoral. (Foto: privat)

Das Interview führte Johanna Deckers

Dieses Interview erscheint in einer Reihe, in der MISEREOR zum 50-jährigen Jubiläum des Fairen Handels in Deutschland die Entstehung und Entwicklung des Fairen Handels beleuchtet. Dazu hat MISEREOR mit verschiedenen Akteuren gesprochen, die bei oder in Kooperation mit MISEREOR daran beteiligt waren.


Von Anfang an fair!

Hintergrundinformationen, Materialien und Aktionen zum Jubiläum finden Sie auf unserer Themenseite zum Fairen Handel.


Weitere Interviews zu
„50 Jahre Fairer Handel“

Geschrieben von:

Avatar-Foto

Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.