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Bolivien nach der Wahl – Neubeginn oder „zurück auf Anfang“?

Aus der Präsidentschaftswahl in Bolivien ist die linke MAS-Partei des ehemaligen Präsidenten Evo Morales als klarer Sieger hervorgegangen. Die Eindeutigkeit des Ergebnisses kam für alle überraschend – selbst für die Gewinner. Mit knapp über 55% der Stimmen wurde ihr Kandidat Luis Arce an die Macht gewählt. Nun ist auch der ehemalige Präsident Evo Morales aus dem Exil in Argentinien zurückgekehrt. Gibt es die Chance auf einen echten Neuanfang oder heißt es schon bald „alles wie gehabt“?

Gemüsemarkt La Paz Bolivien
Über 70 % der bolivianischen Bevölkerung arbeitet in der informellen Ökonomie; sie haben besonders unter den Folgen der Pandemie zu leiden. © Lesley Clerksen / Unsplash

Friedliche Wahlen

Nach den Wahlen hatten viele Menschen mit Unruhen gerechnet. So wie bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Oktober 2019. Da war es nach Betrugsvorwürfen gegen Morales zu heftigen Unruhen gekommen und Morales zum Rücktritt gezwungen. Doch dieses Mal blieb es weitgehend ruhig. Das aktuelle Wahlergebnis wurde nur von wenigen angezweifelt und die Übergangspräsidentin Jeanine Añez gratulierte Luis Arce noch am Wahlabend zu seinem Sieg. Wenig nachvollziehbare und fast hilflos erscheinende Protestaktionen wie Straßenblockaden in Santa Cruz änderten nichts an dieser Gesamtlage. Wichtig war auch, dass der Kandidat der konservativen CC-Partei, Carlos Mesa, als aussichtsreichster Oppositionskandidat umgehend die Wahlergebnisse akzeptierte. Dies nahm konservativen Gruppen noch mehr Wind aus den Segeln. Was war geschehen? Und was bedeutet dieses Ergebnis für die nächsten Jahre?

Warum wieder die Morales-Partei?

Für die sehr klare Entscheidung der bolivianischen Wählerschaft waren vermutlich mehrere Faktoren verantwortlich:

  • Die katastrophale Regierungsführung der rechtskonservativen Übergangspräsidentin Jeanine Añez und ihres Kabinetts. Sie war gekennzeichnet von Korruption, Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen – und damit in dieser Hinsicht eine Fortsetzung von Praktiken der MAS-Regierung unter Morales. Die Erklärung von Añez Ende Januar, sie wolle selbst auch als Präsidentschaftskandidatin antreten, ruinierte ihren Ruf endgültig.
  • Gleichzeitig stellte sich die Übergangsregierung sehr eindeutig auf die Seite der traditionell privilegierten Schichten Boliviens – insbesondere der Agraroligarchie. Añez machte nicht einmal den Versuch, die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft zu überwinden. Die Spaltung hatte sich bereits in den Vorjahren angekündigt und wurde durch die MAS bewusst weiter vorangetrieben. Die Übergangsregierung war zudem nicht in der Lage, mit den Folgen der Pandemie umzugehen. All diese Aspekte waren es, die wohl so etwas wie ein Vorgeschmack auf eine mögliche dauerhafte Machtübernahme der Rechten darstellten und abschreckend auf viele Bolivianerinnen und Bolivianer wirken mussten.
  • Die Oppositionsparteien – ausschließlich aus dem rechten Lager – waren nicht in der Lage, sich zusammenzuschließen, um eine gemeinsame Front zu bilden. Dies war sowohl den politisch blassen Führungspersönlichkeiten als auch den fehlenden politischen Programmen geschuldet. Ihr Wahlkampf war fast ausschließlich auf die Verhinderung einer neuen MAS-Regierung ausgerichtet. Sie konnten nicht glaubhaft als echte Option für die gesamte (und vor allem auch die ärmere) bolivianische Bevölkerung auftreten. Auch blieben ernsthafte Versuche aus, auf die Menschen zuzugehen. Im Gegenteil, sie erweckten den Eindruck, einzig und allein die Ober- und Mittelschicht anzusprechen. Dies galt insbesondere für den aussichtreichsten Oppositionskandidaten, den Intellektuellen Carlos Mesa. Die aggressive und offen rassistische Rhetorik weiterer Oppositionskandidaten wie des drittplatzierten Luis Fernando Camacho, einer „Trump- oder Bolsonaro-Version“ à la Boliviana, weckte zudem berechtigte Ängste vor dem möglichen Verlust sozialer und politischer Errungenschaften, die ehemals marginalisierte Bevölkerungsgruppen mit indigenen Wurzeln unter Evo Morales errungen hatten. Diese Ängste wiederum wurden von der MAS bewusst angeheizt und für die eigenen Zwecke genutzt. Dabei vertiefte die Morales-Partei die bereits bestehenden Gegensätze zwischen indigen und nicht-indigen, arm und reich sowie der Hochland- (Collas) und der Tieflandbevölkerung (Cambas) noch weiter und instrumentalisierte sie zu ihren Gunsten.
  • Die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen für die zu über 70% von der informellen Ökonomie lebende bolivianische Bevölkerung wiegen außerordentlich schwer. Die Armutsraten in Bolivien sind – wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern – nach oben geschnellt. Davon sind nicht nur Menschen der Unterschicht stark betroffen, sondern auch die bolivianische Mittelschicht. Und diese Entwicklung löst große Ängste aus. Eine ökonomische Krise hatte sich in Bolivien aufgrund fallender Rohstoffpreise und schwindender Erdgasreserven bereits im Jahr 2016 deutlich angekündigt.

Den meisten Menschen ist die Regierungszeit der MAS mit dem jetzt gewählten Präsidenten Luis Arce, der damals Wirtschaftsminister war, als eine Zeit ökonomischen Aufschwungs, zunehmenden Wohlstands und relativer Sicherheit in Erinnerung. Der Wunsch nach einer Rückkehr zu diesen Verhältnissen spielte gewiss auch eine große Rolle bei der Wahlentscheidung gerade vieler Menschen aus der Mittelschicht zugunsten von Arce. Luis Arce ist zwar der von Morales bestimmte Kandidat, aber er gibt sich deutlich moderater. Zudem hat er bereits mehrere Fehler der eigenen Partei angesprochen, die in den vergangenen Jahren gemacht worden seien. Arce traf damit wohl einen Nerv im bürgerlichen Lager, in dem er zahlreiche Stimmen gewinnen konnte. Vizepräsident David Choquehuanca dagegen gehört der innerparteilichen Opposition zu Morales an. Er war nur auf starken Druck der Basisorganisationen hin dazu ernannt worden – und gegen den Kandidaten des Parteichefs. Doch es war gerade Choquehuanca, der unermüdlich Kampagnenarbeit auf dem Land und bei der Basis machte und damit die ursprüngliche Wählerschaft der MAS wieder zurückgewinnen konnte. Mit diesen Kandidaten und der Hoffnung auf eine Erneuerung war die MAS für viele auch wieder attraktiv geworden, die zuvor große Zweifel bekommen hatten.

Wahlkampfposter (Ausschnitt) Bolivien 2020
Der neue Präsident Luis Arce (links) hat Fehler der alten MAS-Regierung eingeräumt und schlägt einen moderaten Ton an; Vizepräsident David Choquehuanca gehört der innerparteilichen Opposition zu Morales an. © Unjovenboliviano200507 / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0, cropped)

Vielseitige Herausforderungen

Bolivien und seine Bevölkerung sehen schwierigen Zeiten entgegen. Die zukünftige Regierung wird sich einer Vielzahl von Herausforderungen stellen müssen. Denn das Land befindet sich in einer schweren und multiplen Krise:

  • In einer gesellschaftlichen Krise, die durch die starke Polarisierung der Gesellschaft (entlang ethnischer und sozialer Zuschreibungen) von der MAS sowie von Teilen der Opposition noch verschärft wird.
  • In einer wirtschaftlichen Krise, die hervorgerufen wurde durch die starke Abhängigkeit des Landes von Rohstoffexporten, den Verfall der Rohstoffpreise und den Rückgang der Gasförderung; die Folgen der Pandemie, die ihre Wirkungen jedoch erst in den kommenden Jahren wirklich entfalten wird, verstärken diese noch.
  • In einer ökologischen Krise als Folge des auf Extraktivismus beruhenden Wirtschaftsmodells, durch die zunehmende Vernichtung des amazonischen Regenwaldes und das starke Voranschreiten des Klimawandels. Diese Krise hatte auch Evo Morales mit seinem Pakt mit der Agrarindustrie vorangetrieben; sie fand ihren deutlichsten Ausdruck in den riesigen Waldbränden, die Bolivien letztes und in vermehrtem Maß noch einmal dieses Jahr heimgesucht haben. Die ökologische Krise bedroht bereits jetzt sowohl die Landwirtschaft und damit die Ernährungssicherheit als auch die Wasserversorgung massiv – vor allem in den großen Städten.
  • Die Pandemie, die Bolivien im weltweiten Vergleich sehr hart getroffen hat. Sie hat gnadenlos die enormen Schwächen des Gesundheitssystems offengelegt und viele andere Probleme noch einmal viel deutlicher hervortreten lassen. Dazu gehört z.B. der mit 70% sehr hohe Anteil der informellen Ökonomie an der Beschäftigung der bolivianischen Bevölkerung. Die strengen Quarantänemaßnahmen nahmen damit einem Großteil der Familien alle Einkommensmöglichkeiten. Auch wenn sich die Situation in Bolivien hier in den letzten Monaten etwas entspannt hat, ist die Gefahr längst nicht vorüber. Es muss auch hier mit weiteren Infektionswellen und den entsprechenden Folgen gerechnet werden.

Um diese Herausforderungen in den Griff zu bekommen, ist es dringend notwendig, die tiefe gesellschaftliche Spaltung zu überwinden und einen echten Dialogprozess anzustoßen, in dem von allen Seiten Kritik geübt und Alternativen diskutiert werden können. Das war in den letzten Jahren der Morales-Regierung nicht mehr möglich. Denn alle abweichenden Meinungen, selbst innerhalb der eigenen Partei, wurden unterdrückt oder als Sabotageversuch der Imperialisten diffamiert. Ob die neue bolivianische Regierung sich auf eine Öffnung einlässt und es ihr gelingt, wird auch davon abhängen, inwieweit sich die MAS von dem immer noch mächtigen Morales wird absetzen können. Dies wird mit seiner Rückkehr nach Bolivien noch schwieriger, die selbst von Anhängern der MAS sehr kritisch gesehen wird.

Zeichen der Hoffnung

Es gibt aber hoffnungsvolle Anzeichen für eine Emanzipation der Partei von Morales. Und für eine neue Hinwendung zu ihrer Basis, den kleinbäuerlichen, indigenen und Arbeiterorganisationen. Dazu gehört zum Beispiel das Eingeständnis des designierten Präsidenten Luis Arce, die MAS habe in der Vergangenheit große Fehler begangen, die nun korrigiert werden müssten. Auch seine Zusage, in Zukunft deutlich mehr auf ökologische Belange zu achten, ist vielversprechend. Ebenfalls Hoffnung bereitet das Vorhaben, genmanipulierte Getreidesorten, die unter der Übergangsregierung bereits zugelassen wurden, wieder zurückzunehmen. Auch dass den Basisorganisationen in der Partei eine viel stärkere Rolle zukommen soll, könnte ein weiteres Anzeichen dafür sein, dass die MAS sich von ihrem autokratischen Politikstil verabschieden möchte.

Evo Morales Bolivien
Die Rückkehr von Morales nach Bolivien wird einen Neubeginn erschweren; selbst MAS-Anhänger äußern Kritik. © www.kremlin.ru

Aufarbeitung der Vergehen

Es gibt aber auch negative Vorzeichen für die Zukunft der bolivianischen Demokratie. Dazu zählt die am letzten Tag des alten Parlaments (2014 gewählt) beschlossene Abschaffung der Bedingung einer Zwei-Drittel-Mehrheit für wichtige Entscheidungen in der Abgeordnetenkammer und im Senat. Diese können nun mit einer absoluten Mehrheit getroffen werden. Ein weiterer kritischer Punkt ist die kurz nach den Wahlen von verschiedenen Gerichten beschlossene Absetzung von Strafverfahren gegen ehemalige Regierungsangehörige und Funktionäre der MAS, ohne dass eine ernsthafte Untersuchung der Vorwürfe stattgefunden hätte. Gleichzeitig werden gegenwärtig verschiedene Mitglieder und Funktionäre der Übergangsregierung wegen verschiedener Delikte im Rahmen der gewaltsamen Unterdrückung der – ebenfalls gewaltsamen – Unruhen nach den Wahlen vom Oktober 2019 angeklagt. Eine Untersuchung dieser Vorfälle und mögliche Bestrafung sind ohne Zweifel notwendig. Genauso erforderlich ist auch eine Untersuchung der Rolle, die die MAS selbst sowie Teile ihres Umfelds dabei gespielt haben.

Luis Arce Bolivien neuer Präsident
Den meisten Menschen ist die MAS-Regierungszeit mit dem jetzt gewählten Präsidenten Luis Arce, der damals Wirtschafts- und Finanzminister war, als eine Zeit ökonomischen Aufschwungs, zunehmenden Wohlstands und relativer Sicherheit in Erinnerung.
© UNCTAD / Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0)

Es ist zu hoffen, dass aus dem Rachefeldzug der Übergangsregierung an der MAS und ihren Anhängern nun nicht ein ebensolcher der MAS an ihren Gegnern wird. Stattdessen sollte es eine ernsthafte und unabhängige Untersuchung der Geschehnisse vor und nach den Wahlen von 2019 geben. Tatsächlich fürchten viele zivilgesellschaftliche Organisationen – auch Partnerorganisationen von MISEREOR, die in den Bereichen Umweltschutz, Klimawandel, Extraktivismus oder indigene Rechte arbeiten –, dass sie aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber der MAS Repressalien erleiden könnten.

Bolivien Flagge Berge
Die Frage nach Alternativen in der Entwicklung des Landes ist auch zentrales Thema der Fastenaktion von MISEREOR im Jahr 2021, die Bolivien zum Schwerpunktland haben wird.
© Milos Hajder / Unsplash

Fastenaktion 2021: Schwerpunkt Bolivien

In den nächsten Wochen wird sich zeigen, wohin die neue Regierung steuert. Es ist zu hoffen, dass sie tatsächlich den gesellschaftlichen Dialog fördern, einen echten Prozess der Demokratisierung und Dekolonisierung hin auf mehr soziale Gerechtigkeit einleiten und neue Wege in der Wirtschaftspolitik einschlagen wird. Eine größere Unabhängigkeit vom Rohstoffexport und der Schutz des amazonischen Waldes würden Bolivien sowohl in ökonomischer als auch in ökologischer Hinsicht eine deutlich nachhaltigere Entwicklung ermöglichen. Die Frage nach solchen Alternativen ist auch zentrales Thema der Fastenaktion von MISEREOR im Jahr 2021, die Bolivien zum Schwerpunktland haben wird.


Weitere Informationen

Eine Vorschau zur MISEREOR-Fastenaktion 2021 finden Sie hier.

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Markus Zander ist Referent für Bolivien bei MISEREOR.

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