Suche
Suche Menü

EU-Mercosur-Abkommen: Retro-Handelspolitik in der Zeitenwende

„Diversifizierung“ lautet das neue Zauberwort in der europäischen Handelspolitik. Um den Verlust russischer Rohstoffe zu kompensieren und die Abhängigkeit von China zu verringern – so heißt es –, müsse die EU ihre Handelsbeziehungen schleunigst diversifizieren.

Sojaplantage
Die Sojaplantagen in Pará sind ein Beispiel dafür, wie der Anbau von Monokulturen die biologische Vielfalt gefährden. © Ramos Görne/ Misereor

So berechtigt das Anliegen der Diversifizierung ist, so rückwärtsgewandt ist jedoch die Handelspolitik, welche die EU-Kommission und die Bundesregierung zu diesem Zweck propagieren. Dies gilt besonders für das geplante Abkommen mit dem Mercosur, bestehend aus Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Dabei gefährdet es in seiner bisherigen Fassung den Amazonas, das Klima, die biologische Vielfalt und die Menschenrechte massiv – sollte es nicht grundlegend neuverhandelt werden.[1] Gegen eine solche Neuverhandlung sperrt sich aber nicht zuletzt die Bundesregierung.

Tödliche Sojafront in Pará

Welches Agrarmodell das Abkommen begünstigen würde, zeigt sich beispielsweise im nordbrasilianischen Bundestaat Pará im Umland des Landkreises Santarém. In Santarém, wo der Tapajós-Fluss in den Amazonas mündet, liegt einer der größten Häfen des Getreidegiganten Cargill. Bis zu fünf Millionen Tonnen Soja und Mais werden hier jährlich auf Frachtschiffe verladen. Ein wichtiger Zielhafen ist Rotterdam, wo die Rohstoffe vor allem zu Futtermittel für europäisches Vieh verarbeitet werden. Die Sojabohnen stammen aus den Monokulturfeldern, die sich immer weiter in den Amazonasurwald fräsen – und damit die Erderwärmung weiter anheizen.

Lastwagen fährt in Hafen ein
Am Hafen von Santarém werden jährlich bis zu fünf Millionen Tonnen Soja und Mais verladen. © Ramos Görne/ Misereor

Dabei kommen zudem massiv giftige Pestizide zum Einsatz, die hier Böden, Luft und Gewässer verseuchen. So wies eine Untersuchung des Instituts Evandro Chagas anhand von Blut- und Urinproben bei 280 Menschen über den zulässigen Referenzwerten liegende Mengen von Agrochemikalien nach, darunter u. a. Glyphosat. Kein Wunder, denn Landwirt*innen und Landarbeiter*innen versprühen die Pestizide häufig ohne Schutzkleidung; Dorfbewohner*innen nutzen Pestizidbehälter mitunter, um Wasser zu sammeln. Häufig werden die Pestizide zudem aus der Luft versprüht und verbreiten sich auf angrenzenden Feldern, in Wohnsiedlungen und sogar Schulhöfen. Viele der Pestizide, die in Brasilien verwendet werden, stammen von Bayer oder BASF – einige von ihnen sind in der EU längst verboten, dürfen aber weiter exportiert werden.[2]

Treiber für die Klimakrise

Diese und ähnliche Probleme würde das geplante Handelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur noch verschärfen, nicht nur in Brasilien. Nach dem bisherigen Entwurf würde es 90 Prozent der Importzölle des Mercosur auf Chemikalien aus der EU abschaffen und damit den Export giftiger Pestizide von BASF und Bayer weiter ankurbeln. Außerdem würde das Abkommen die EU zu einer erheblichen Ausweitung zollbegünstigter Importquoten für Rind- und Hühnerfleisch verpflichten.

Der damit verbundene Anstieg lateinamerikanischer Fleischexporte bereitet nicht nur europäischen Landwirt*innen, die einen zusätzlichen Konkurrenz- und Preisdruck fürchten, Sorgen, sondern auch Klimaschützer*innen. Wie Sattelitenaufnahmen von 2019 zeigen, ereigneten sich 70 Prozent der Amazonasbrände in den mutmaßlichen Herkunftsregionen von Schlachtvieh für JBS, Marfig und Minerva, den größten Rindfleischproduzenten Brasiliens.[3] Brandrodungen für Weideflächen haben auch in den Trockenwäldern der Gran Chaco-Region in Brasilien, Bolivien, Argentinien und Paraguay erheblich zugenommen.

Ähnliche Effekte drohen durch die Ausweitung der EU-Importquoten für Zuckerrohr, vor allem aber für Bioethanol auf Zuckerrohrbasis. Für Bioethanol soll die Quote auf jährlich 650 000 Tonnen ansteigen, also das Sechsfache der bisherigen Importe. Verwendung soll das Ethanol in der chemischen Industrie und als Bestandteil von Biotreibstoffen für europäische Autos finden – zum Schaden der artenreichen Trockensavannen des Cerrado, wo der Zuckerrohranbau am stärksten expandiert. Zu den Leidtragenden gehören auch indigene Gemeinschaften wie die Guarani-Kaiowá im Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Auf deren Territorien wurde illegal Zuckerrohr für den Bio-Ethanol-Hersteller Raízen angebaut, einem Joint Venture von Shell und Cosan. Die Staatsanwaltschaft untersagte Raízen, Zuckerrohr aus dem indigenen Gebiet Guyraroka zu beziehen. Dennoch setzen die Großgrundbesitzer der angrenzenden Ländereien weiterhin gezielt Pestizide ein, in der Erwartung, dadurch die Indigenen zu verdrängen und die Geschäftsbeziehungen mit Raízen wieder aufzunehmen.

Dreckiger Fluss im Amazonas
Der extreme Einsatz von Pestiziden schadet Mensch und Umwelt – wie hier einem Fluss, der von den giftigen Pflanzenschutzmitteln vergiftet wurde. © Ramos Görne/ Misereor

Das Handelsabkommen soll darüber hinaus den Zugang europäischer Konzerne zu Metallen und Rohstoffen absichern und verbilligen – bei deren Abbau es in den Mercosur-Staaten regelmäßig zu schweren Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen kommt.

Bremsklotz für die sozial-ökologische Transformation

Um negative soziale und ökologische Auswirkungen zu verhindern, enthält der Entwurf des Handelsabkommens zwar ein Nachhaltigkeitskapitel. Dieses erschöpft sich allerdings überwiegend in unverbindlichen Bemühungsklauseln[4], die stark hinter dem aktuellen Diskussionsstand zu verbindlichen Lieferkettengesetzen auf nationaler, EU- und UN-Ebene bleiben. Ohnehin unterliegt das Nachhaltigkeitskapitel nicht dem bilateralen sanktionsbewehrten Streitbeilegungsverfahren, das bei Verstößen gegen Bestimmungen in anderen Kapiteln aktiviert werden kann. Das von der EU-Kommission ausgearbeitete Zusatzinstrument mit Auflagen zum Umweltschutz sieht offenbar keine neuen Verpflichtungen oder Sanktionsmöglichkeiten vor.

Hinzu kommt, dass die EU-Kommission und Olaf Scholz mit der Idee liebäugeln, das Abkommen in einen politischen und eine Handelsteil aufzusplitten und letzteren vorab zu ratifizieren. Im Handelsteil sind die im Koalitionsvertrag geforderten Menschenrechtsbestimmungen jedoch nicht enthalten.[5] Auch demokratische Mitbestimmungsrechte würden damit ausgehebelt. Denn wegen der exklusiven Zuständigkeit der EU für Handelspolitik müssten nationale und regionale Parlamente der EU-Mitgliedstaaten dem Abkommen nicht mehr zustimmen.

Sonnenuntergang in Brasilien
Gefährdetes Paradies: Durch die Ausweitung von Sojaplantagen und Weideflächen droht diese paradiesische Landschaft zerstört zu werden. © Ramos Görne/ Misereor

Alles in allem würde das Abkommen die dringend erforderliche sozial-ökologische Transformation im Mercosur-Raum wie auch in der EU konterkarieren. Während im Mercosur Bergbaukonzerne, Fleischexporteure, Zucker- und Sojabarone profitieren würden, wären die Hauptgewinner in der EU die Chemie- und Automobilindustrie, die ihre Produkte in 15 Jahren zollfrei in den Mercosur exportieren könnten.[6]

Die Zementierung kolonialer Arbeitsteilung

Rückwärtsgewandt ist das Handelsabkommen auch deshalb, weil es die neokoloniale Arbeitsteilung zementiert, die den Konzernen ehemaliger Kolonialmächte den Löwenanteil der Wertschöpfung sichert und eine wirtschaftliche Emanzipation der ehemals kolonisierten Staaten behindert. 2020 entfielen immer noch über 80 Prozent der EU-Exporte in die Mercosur-Staaten auf Industrieprodukte, die Hälfte davon auf Maschinen und Kraftfahrzeugteile. Umgekehrt exportierten die Mercosur-Staaten zu drei Vierteln Agrar- und Bergbauerzeugnisse in die EU. Die Abschaffung fast aller Zölle auf beiden Seiten würde diese Asymmetrie weiter verschärfen. Gewerkschaftsverbände des Mercosur bezeichnen das Abkommen sogar das „Todesurteil“ für ihre Industrien.

Frauen in einem Stuhlkreis
Die Zivilgesellschaft mobilisiert sich, um Wiederstand zu leisten. © Ramos Görne/ Misereor

Partnerschaft auf Augenhöhe?

Es spricht einiges dafür, dass das Abkommen in seiner jetzigen Form nicht verabschiedet werden kann. Der von verschiedenen Seiten angemahnte Änderungsbedarf im Hinblick auf Nachhaltigkeit, Waldschutz, Menschenrechte, Landwirtschaft, Automobilzölle und öffentliche Beschaffung erfordert vielmehr eine grundlegende Neuverhandlung. Diese jedoch wollen die EU-Kommission und Kanzler Scholz unter allen Umständen verhindern, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs.

Zwar klingt das Argument der notwendigen Diversifizierung zunächst einleuchtend. Doch braucht es dafür Knebelverträge, welche die neokoloniale Arbeitsteilung zementieren sowie das Klima und die Menschenrechte gefährden? Wäre nicht vielmehr ein Kooperationsangebot zielführender, das den Partnern größere Spielräume zum Schutz und zur Förderung ihrer eigenen Wirtschaft und damit einen größeren Teil der Wertschöpfung in globalen Lieferketten zugesteht? Und müssten die EU und die deutsche „Fortschrittskoalition“ ihr Ziel einer Diversifizierung nicht zumindest mit dem Beharren auf ambitionierten, verbindlichen und sanktionsbewehrten Nachhaltigkeits- und Menschenrechtsstandards verbinden? Fest steht: Nur so ließe sich das von Scholz auf seiner jüngsten Lateinamerika-Reise immer wieder geäußerte Versprechen einer Partnerschaft auf Augenhöhe auch wirklich einlösen.  


[1] Vgl. Thomas Fritz, EU-Mercosur Abkommen. Risiken für Klimaschutz und Menschenrechte, Misereor, Greenpeace und Dreikönigsaktion (Hg.) 2020.

[2] Vgl. ebd., S. 18-22.

[3] Vgl. ebd., S. 16.

[4] Vgl. Rhea Tamara Hoffmann und Markus Krajewski, Rechtsgutachten und Vorschläge für eine mögliche Verbesserung oder Neuverhandlung des Entwurfs des EU-Mercosur-Assoziierungsabkommens, Misereor, Greenpeace und CIDSE (Hg.), 2021, S.29-32.

[5] Vgl. Hoffmann und Krajewski, a.a.O., S. 22 f.

[6] Vgl. Fritz, a.a.O., S. 20-27.


Weitere Informationen

Hier finden Sie den Beitrag in voller Länge (www.blaetter.de) >

Protest gegen Mercosur-Abkommen

Der „alte“ Kontinent muss den „Neuen“ respektieren

Beim EU-CELAC-Gipfel in Brüssel wurden die Erwartungen, bestehende Differenzen bzgl. des Mercosur-Abkommens zu lösen, enttäuscht. Zivilgesellschaftliche Vertreter*innen fordern gerechte Lösungen – für Mensch und Umwelt. Zum Blogbeitrag >


Geschrieben von: und

Portraitfoto einer Misereor-Mitarbeiterin

Madalena Ramos Görne ist Länderreferentin für Brasilien bei Misereor.

Ansprechpartnerportrait

Armin Paasch ist Experte für Verantwortliches Wirtschaften und Menschenrechte bei Misereor.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.